Wer am Bahnhof von Weißenfels in Sachsen-Anhalt aussteigt, hat zwei Blickperspektiven: Auf der einen Seite liegt das Zentrum der 40.000-Einwohner-Stadt mit dem imposanten Barockschloss Neu-Augustusburg und weiteren Prachtbauten. Auf der anderen Seite beginnt der Stadtteil Neustadt mit seinen zerfallenen Historismus-Fassaden, ein sozialer Brennpunkt.
Ende der 1980er Jahre war Weißenfels der größte Schuhfabrikationsstandort der DDR. Mit der Wende wurde das Kombinat zerschlagen. Wenig später siedelte sich das westdeutsche Unternehmen Tönnies in Weißenfels-Neustadt mit einem riesigen Schlachthof an und wurde zu einem der größten Arbeitgeber der Region.
Doch es sind vor allem Niedriglohn-Jobs, die zunächst viele Polen, später Rumänen und Bulgaren anzogen. Inzwischen liegt der Migrantenanteil in Neustadt bei über 40 Prozent. Von der Grundschule wechseln knapp 9 Prozent der Kinder aufs Gymnasium, in anderen Stadtteilen sind es über 60 Prozent.
Mittendrin liegt der Kinder-, Jugend- und Familientreff "Die Brücke" der Caritas. Im Aufenthaltsraum spielen einige Kinder Billard. Es gibt Sofas zum Abhängen, Brettspiele und Spielkonsolen. In der Küche backt eine Gruppe Muffins. Die Altersspanne liegt zwischen 10 und 16 Jahren. 2019 kam die Stadt auf die Caritas zu und fragte, ob der katholische Wohlfahrtsverband nicht in Neustadt Kinder- und Jugendsozialarbeit machen wolle.
Auch für die Eltern ein Angebot schaffen
"Uns war es besonders wichtig, auch für die Eltern ein Angebot zu schaffen", sagt Monika Schwenke, im Caritasverband des Bistums Magdeburg federführend zuständig für Beratende Dienste und Sozialpolitik. Gerade in Brennpunktvierteln gebe es oft multiple Problemlagen - und da punkte die Caritas mit ihrem vielfältigen Fach- und Beratungsangebot, das teils im gleichen Haus wie die "Brücke" untergebracht ist.
So zum Beispiel die Migrationsberatung, wo Alexander Heinke tätig ist. Er berichtet, dass viele Familie mit Existenzängsten zu ihm kommen: "Wenn sie plötzlich ihren Job verlieren, wissen viele gar nicht, dass sie zur Arbeitsagentur gehen müssen, um Arbeitslosengeld zu beantragen. Oder dass eine Lücke in der Krankenversicherung entsteht, wenn sie es nicht tun. Da kann ganz schnell eine Kettenreaktion losgehen, wo auch das Kindergeld plötzlich wegfällt."
Viele seien mit der Bürokratie schlicht überfordert
Viele seien mit der Bürokratie schlicht überfordert. Schwenke merkt kritisch an: "Wir müssen uns in Deutschland fragen, ob wir durch eine Überbürokratisierung bei der Beantragung von Sozialleistungen nicht zusätzlich Armut provozieren?"
Daneben gebe es auch diejenigen, die aus Scham keine Beratung aufsuchten: "Die Scham und Angst, unter anderem von Migrantinnen und Migranten, den gesellschaftlichen Integrationserwartungen nicht zu genügen, werden im politischen Diskurs ums Fordern und Fördern oft ausgeblendet. Kann man bestimmte Unterlagen nicht vorweisen, stagniert auch der persönliche Integrationsprozess und erhöht sich das Armutsrisiko."
Jeder Fünfte in Sachsen-Anhalt von Armut betroffen
Das Problem nimmt zu: Jeder Fünfte in Sachsen-Anhalt ist inzwischen von Armut betroffen. Im November gründete sich eine Landesarmutskonferenz. Ein stärkeres Engagement gegen Armut und soziale Ungleichheit sei wichtig, um die Gesellschaft zusammenzuhalten, hieß es. Doch das kostet auch Geld.
Die Caritas-Projekte sind laut Monika Schwenke zu 85 bis 90 Prozent über staatliche Fördergelder finanziert. Hier drohen im Zuge der bundesweiten Haushaltskrise empfindliche Einsparungen. Ein weiteres Problem: "Die Erfolge von sozialer Arbeit werden oft erst nach fünf, sechs Jahren sichtbar. Fördergelder sind aber auf deutlich kürzere Zeiträume ausgelegt. Da hat man oft nur ein, zwei Jahre Planungssicherheit."
In der "Brücke" versuchen Leiter Mario Kabisch-Böhme und sein Team, auf vielfältige Weise Input zu geben: Es gibt Ferienfreizeiten und Ausflüge. Einmal die Woche steht Kochen auf dem Programm. Das Ziel: Wie macht man aus wenigen Dingen eine gesunde Mahlzeit?
Beim Töpfern und Glasbrennen wird handwerkliches Geschick trainiert. Eng ist auch der Kontakt zur Caritas-Schulsozialarbeiterin. Dabei zeige sich: Wenn Eltern selbst kaum Schulbildung haben, ist ihnen teils nicht bewusst, dass für ihre Kinder Bildung der Schlüssel ist, um aus der Armut herauszukommen. Wenn sich keiner für die Kinder einsetzt, haben sie kaum eine Chance.
In die Brücke-Küche schneit der Stadtratsvorsitzende Jörg Freiwald (68) von den Linken herein, ein beleibter Herr mit Strickweste, ältlicher Aktentasche und fröhlichem Gesicht. Er hat die 16-jährige Sakina und ihre zwei jüngeren Geschwister dabei, die vor zehn Monaten aus Afghanistan nach Deutschland kamen. "Sie will besser Deutsch lernen und da dachte ich, hier ist eine gute Möglichkeit", sagt Freiwald. "Der Mario ist ja immer einer, der nach Lösungen sucht. Das mag ich."
Kabisch-Böhme lächelt: "Ich bewege gerne Dinge, die herausfordernd sind." Aber es brauche auch viel Kraft und Ausdauer, manches sei frustrierend. Kindern aus benachbarten Großfamilien musste er Hausverbot erteilen. Nicht jedes Verhalten lasse sich in den Griff bekommen. "Mit sozialer Arbeit ändert man keine Menschen, aber im besten Fall ihr Handeln."