DOMRADIO.DE: Es gibt zunehmend Debatten um Geflüchtete, Zuwanderung und Rückführung von Menschen, die - so heißt es in der Amtssprache - irregulär ins Land gekommen sind. Relativiert diese Debatte die universellen Menschenrechte?
Stephanie Tegeler (Leiterin des Referates Soziale Arbeit beim Diözesan-Caritasverband Münster und Flüchtlingsbeauftragte des Bistums Münster): Ja, die Debatten sind davon in der letzten Zeit sowohl politisch als auch gesellschaftlich geprägt. Die Diskussion darüber, wie man Menschen davon abhält, hierher zu kommen; wie man sie abschreckt; wie man es ihnen hier möglichst ungemütlich macht und wie man sie, wenn sie einmal hier sind, möglichst schnell wieder zurückführt, beobachten wir als Caritas mit großer Sorge, weil es die Menschenrechte relativiert, angefangen beim Menschenrecht auf Leben, Freiheit und Sicherheit.
Dazu gehört das Recht auf Asyl. Denn dieses Recht auf Asyl ist ein Instrument zur Durchsetzung des Rechts auf Leben, Freiheit und Sicherheit. Das bedeutet, dieses Recht gilt, sobald ich in ein Land einreise. Egal ob ich ein Visum oder einen Pass habe; egal woher ich komme und warum. Das ist erst mal völlig irrelevant. Alle, die um Asyl bitten, nehmen ihr Menschenrecht wahr. Das ist weder irregulär noch illegal.
DOMRADIO.DE: Inwiefern sehen Sie sich in ihrer Rolle oder die Caritas in der Pflicht, auf die Einhaltung der Menschenrechte zu pochen?
Tegeler: Es ist eine Kernaufgabe der Caritas, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen entgegenzutreten, die einzelne Personen oder ganze Personengruppen ausgrenzen. Das machen wir auf verschiedenen Ebenen. Bis runter zum Ortsverband, der täglich schutzsuchende Menschen berät und begleitet.
Das machen die in der Caritas und Kirche ehrenamtlich Engagierten, indem sie die Menschen dabei unterstützen, ihre Rechte durchzusetzen. Das machen wir als Diözesan-Caritasverband, indem wir unseren Teil zu dieser Debatte beitragen, um die Diskussion wieder zu versachlichen.
So zugespitzt, wie gerade über die Themen gesprochen wird, findet die Debatte weit entfernt vom Gebot der Humanität und damit von der Menschenwürde statt.
DOMRADIO.DE: Wird das Recht auf Asyl nicht von Menschen ausgenutzt, die als Wirtschaftsflüchtlinge ins Land kommen?
Tegeler: Auch diese Menschen sind Träger der universellen Rechte. Das heißt, jeder Mensch ist frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Das haben wir im Grundgesetz nicht ohne Grund an sehr prominenter erster Stelle aufgegriffen: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar.'
Zur Menschenwürde gehört auch, dass man seinen Lebensunterhalt und seine Existenz sichern kann. Das ist, was die allermeisten Menschen wollen - egal woher sie kommen und egal wo sie leben möchten.
Sie möchten ihr Leben frei gestalten. Sie möchten ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Sie möchten ihren Kindern Bildung ermöglichen. Sie möchten eine gute Zukunft für Ihre Familie, vielleicht eine bessere, als sie selbst hatten.
Deswegen wäre es sinnvoll, wenn wir das den Menschen ermöglichen. Zum Beispiel, indem wir ihnen die Erlaubnis zu arbeiten erteilen; indem wir ihnen ermöglichen, dort hinzuziehen, wo sie eine Wohnung, Arbeit und einen Schulplatz für ihre Kinder finden; wo sie Teil der Gesellschaft sein können.
Das wäre eine wünschenswerte Entwicklung. Wenn die Menschen ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sichern können, ist der Staat, in dem sie sich aufhalten, verfassungsgemäß dafür zuständig, diese Existenz zu sichern. Das ist migrationspolitisch nicht relativierbar.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Hinblick auf Bildung? Für Flüchtlingskinder ist der Schulbesuch häufig erschwert. Auf der anderen Seite sind die Schulen am Limit. Ist das nicht ein Dilemma?
Tegeler: Für Kinder ist Bildung nicht nur Bildung, sondern eine Form von Teilhabe. Genauso wie für Erwachsene Arbeit eine Form von Teilhabe sein kann. Die Herausforderungen im Schulsystem sind nicht neu und lange bekannt. Sie sind nicht dadurch entstanden, dass Menschen zu uns gekommen sind.
Je früher Menschen Sprache erlernen können; je früher Menschen Teil dieser Gesellschaft sein können, desto besser ist es integrationspolitisch. Wir als Caritas wünschen uns, dass sich die Debatte weniger damit befasst, wie man Menschen abschreckt und zurückführt, sondern wie Integration gemeinsam als gesamte Gesellschaft gelingt.
Das ist sicherlich mit Investitionen verbunden, nicht nur im Bildungssystem. Aber die Folgekosten, die entstehen, wenn wir diese Aufgabe nicht angehen, schätze ich als auf gesellschaftlicher, politischer und wirtschaftlicher Ebene sehr viel größer ein.
Das Interview führte Tobias Fricke.