DOMRADIO.DE: Wir müssen mit dem Rückblick einen Tag vor 2023 beginnen. Mit dem Tod des emeritierten Papstes, Benedikt XVI. Er hat den Jahresbeginn der katholischen Welt überschattet. Wissen Sie noch, auf welche Weise Sie davon erfahren haben?
Irme Stetter-Karp (Präsidentin des Zentralkomitees deutschen Katholiken): Ich habe durch einen Anruf von seinem Tod erfahren und ganz schnell war mein Tag dann anders, als ich mir morgens erträumt hätte.
Ich war, wie viele Menschen, erst mal überrascht und natürlich auch erschüttert davon, dass ein ganz großer Theologe aus dem deutschsprachigen Raum nicht mehr unter den Lebenden ist.
DOMRADIO.DE: Das nächste große Ereignis: März 2023, Frankfurt, die fünfte Synodalversammlung - und damit das Ende des Synodalen Weges. War das für Sie als Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in diesem Jahr einer der emotionalsten Momente?
Stetter-Karp: Die Versammlung hat uns schon im Vorfeld in Atem gehalten. Wir haben uns die Frage gestellt, wie es gelingen wird, diese fünfte Versammlung zu einem guten Ende zu bringen.
Es waren bewegte Stunden und am Ende waren wir, trotz aller Kompromisse, die wir machen mussten, zufrieden - trotz der vielen Unkenrufe, Warnzeichen und Stoppschilder.
DOMRADIO.DE: Das mediale Echo zum Abschluss war gemischt, zum Teil auch niederschmetternd. Waren die Kompromisse auch für Sie enttäuschend?
Stetter-Karp: Die Beschlüsse um die Stellung der Frau in der katholischen Kirchen sind aus meiner Sicht ein gigantisches Versäumnis, wirklich, ein Eigentor. Dieses Thema kann nicht losgelassen werden. Menschenrechtlich steht die Uhr auf zehn nach zwölf.
DOMRADIO.DE: Der Ausgangspunkt war die Missbrauchskrise, ausgelöst durch die MHG-Studie 2018. Konnte der Synodale Weg aus Ihrer Sicht das Vertrauen der Gläubigen zurückgewinnen?
Stetter-Karp: Wir hatten nicht das Ziel, Menschen zu gewinnen, damit sie wieder in die Kirche eintreten. Das kann uns natürlich nur recht sein, aber wo soviel Vertrauen zerstört ist, ist es alles andere als leicht, Vertrauen wieder aufzubauen.
Dort zählt Beziehungsarbeit, Redlichkeit und die Orientierung am Menschen, nicht die Orientierung an den eigenen Zielen. Und ja, wir versuchen auch an der Frage der Aufarbeitung des Missbrauchs dranzubleiben, die eigenen Schatten zu sehen.
Und nach wie vor warten wir vom Staat auf ein Gesetz. Wir sind noch lange nicht am Ziel.
DOMRADIO.DE: Das Ende des Reformprojekts war zugleich ein Anfang für den Synodalen Ausschuss. Aus dem Vatikan kamen schon deutliche Zeichen, dass das nicht gewünscht ist. Wie zuversichtlich sind Sie, trotz des Widerspruchs aus Rom, dass die deutsche Kirche in Zukunft "demokratischer" und mehr auf Augenhöhe, funktionieren kann?
Stetter-Karp: In kultureller Hinsicht bin ich sehr positiv gestimmt. Aus der Erfahrung, die wir gemacht haben, wissen wir nämlich, dass wir als Laien mittlerweile ganz anders mit den Bischöfen sprechen können, als das noch vor 2019 möglich war. Offener und kritischer und deutlicher in einer gemeinsamen Verantwortung.
Es geht ja nicht nur um Forderungen, sondern auch um die Frage, wie wir als Teil der katholischen Kirche dastehen. Was tragen wir zu einer glaubwürdigen Kirche bei? Kulturell bin ich zuversichtlich. Da sind sind wir einen Schritt weitergekommen.
Anders sieht es aus, wenn man sich die kirchenpolitische Dimension anschaut. Was Rom in einem Vatikanschreiben zum Thema Synodaler Rat kommentiert hatte, trifft aus meiner Sicht nicht den Kern. Es vermittelt Vorstellungen, die gar nicht in unserem Beschluss sind. Er vermittelt, dass wir das Bischofsamt nicht mehr haben wollen.
Wir sagen aber im Beschluss -und das ist unsere Überzeugung- dass es Sinn ergibt, Macht aufzuteilen und zu mehr Erfolg für das Volk Gottes führt.
So kann es sich anders identifizieren und Bischöfe können auf diese Weise bessere Entscheidungen treffen, wenn man gemeinsam am Tisch sitzt und sich berät. Von daher gehen wir diesen Weg stringent weiter.
DOMRADIO.DE: In diesem Jahr hat im Oktober auch die Weltsynode stattgefunden. Inwiefern hat Ihnen das Hoffnung gegeben, dass sich eine Weltkirche doch noch bewegen lässt?
Stetter-Karp: Hoffnung und Sorge liegen da nah beieinander. In Rom war ich keine Delegierte, aber die Kontinentalversammlung im Februar in Prag hat mir gezeigt, dass die kulturellen Differenzen innerhalb der katholischen Kirche gravierender sind als die religiösen Differenzen. Hier nenne ich ausdrücklich West- und Osteuropa.
Das wird medial nicht ganz so aufgegriffen, das hat mir die persönliche Begegnung in einem Versammlungsraum über mehrere Tage gezeigt.
Und diese Erfahrung sagt mir: Wir haben nicht nur zwischen den Bischöfen in der Weltkirche, sondern auch zwischen den Laien extreme Pole. Ich bleibe aber zuversichtlicher, dass uns gemeinsam etwas gelingen kann.
Mir sind allerdings auch die erheblichen Störmanöver aufgefallen, die teils bigotten Vorstellungen von Laien und Klerikalen. Und da sehe ich natürlich auch inhaltliche Differenzen. An mancher Stelle bin ich schon sehr über den Stil gestolpert und vielleicht muss man das auch einfach so zur Kenntnis nehmen, dass Weltkirche in ihrer Vielfalt eben so aussieht.
Und was den Oktober angeht, hoffe ich, dass es diesem Dokument zum Ende der Versammlung gelingen kann, die Probleme einigermaßen ordentlich zu benennen. So dass im nächsten Schritt auch Lösungen gesucht werden können.
Ich glaube aber nicht, dass es einen großen Sprung gibt, etwa bei dem Thema "Frauen in der Kirche". Das würde mich doch überraschen, so dringend er ist.
Ich vermute eher, dass es kleine Trippelschritte gibt. Jetzt kann ich nur hoffen, Sie gehen in die richtige Richtung und nicht zwei Schritte vor und einen zurück.
DOMRADIO.DE: Sie haben gerade Osteuropa angesprochen. Polen war in diesem Jahr eine Station, die Sie gemacht haben. Über Pfingsten waren Sie dort und haben mit vielen Kirchenvertretern gesprochen. Die Reise hat sie damals nachdenklich gestimmt. Kann jetzt vielleicht die neue Regierung unter Donald Tusk die traditionellen Krusten vielleicht ablösen?
Stetter-Karp: Die Gesellschaft und die Kultur, in der wir leben, prägt natürlich unser Verständnis. Insofern glaube ich nicht, dass eine andere Regierung plötzlich alle Katholiken und Katholikinnen in Polen verändert. Aber natürlich, es gibt dort jetzt einen anderen Rahmen.
Ich hoffe, dass die Wahl für das deutsch-polnische Verhältnis eine bessere Verständigung ermöglichen wird. Deshalb habe ich mich sehr über die Wahl gefreut.
Ja, politisch war ja auch in Deutschland einiges los. In diesem Jahr gab es Themen, bei denen sich die Kirche klapr positionieren musste.
Der Krieg in Nahost hat zum Beispiel hierzulande aufkeimenden Antisemitismus zutage gefördert, zugleich haben wir das Problem des wachsenden Rechtspopulismus.
DOMRADIO.DE: Bereitet Ihnen das Bauchschmerzen?
Stetter-Karp: Das tut es in der Tat, nicht erst seit gestern. Ich würde gerne noch einen Moment zurückgehen, weil wir den anhaltenden Ukraine-Krieg oft einfach vergessen. Der gehört in diese Aufzählung aus meiner Sicht unbedingt dazu.
Ich sehe die Gefahr, dass wir uns an diesen brutalen Stellungskrieg gewöhnen, weil wir ihn nur medial erleben. In anderen Ländern, wie Polen oder Finnland mit der unmittelbaren Grenze zu Russland, ist der Krieg viel präsenter; das habe ich auch in Polen erlebt.
Das Erstarken der rechtspopulistischen Kräfte in Europa und die wachsende Gefahr für die Demokratie, die machen mir extreme Sorgen. Ich bin 67 Jahre alt und ich muss sagen, dass ich es vor 15, 20 Jahren fast nicht für denkbar gehalten hätte, dass wir in so eine Lage kommen.
Ich wusste, dass der Antisemitismus überall nur schlummert und nie weg war, aber das er in dieser Massivität wieder auftrifft, empfinde ich als sehr bedrückend. Mir bleiben die Worte weg, wenn ich daran denke, was aus diesem Trumpismus zu ziehen ist.
Innenpolitisch war es ein unruhiges Jahr und ich bin froh darüber, dass ich im Sommer in der Öffentlichkeit deutlich machen konnte, dass aus meiner Sicht ein Mandat in der AfD mit einer Mitgliedschaft in katholischen Gremien und katholischen Wahlämtern nicht vereinbar ist.
Und ich bin auch froh darüber, dass sich Georg Bätzing und einige Bischöfe wie Kardinal Marx und Erzbischof Koch klar dazu im gleichen Sinne geäußert haben. Es gibt einzelne Bischöfe, bayerische Bischöfe, die das weichgezeichnet haben. Das halte ich, offen gesagt, politisch für naiv.
Und ich will natürlich nicht meinen Rückblick enden lassen, ohne auf den 7. Oktober und den terroristischen Überfall der Hamas auf Israel zu blicken. Ein Zivilisationsbruch und in der Folge ein fast weltweit explodierender Antisemitismus. Grauenhaft, diese Entwicklung.
Natürlich bangen wir um die Opfer in Gaza und wollen das nicht übersehen, aber wir wollen eben auch nicht übersehen, dass der Staat Israel das Recht hat, sich zu verteidigen und die Hamas noch immer Geiseln in ihrer Gewalt haben. Eine durchaus schwierige Lage.
Es ist auch nicht leicht, dem Leid aller im Gedenken gerecht zu werden.
DOMRADIO.DE: Gibt es noch etwas, worauf Sie sich im neuen Jahr freuen? Es steht beispielsweise wieder der Katholikentag an, diesmal in Erfurt.
Stetter-Karp: Es gibt natürlich nicht nur den Katholikentag, aber auf ihn freue ich mich besonders. Ich bin sehr neugierig, was wir dort erleben werden. Jeder Katholikentag ist ein neuer und anderer, weil eben sich die Umgebung ändert, das Bundesland, die politische Situation.
Da freue mich auf die Begegnungen und auf das gemeinsame Gebet, auf das miteinander Feiern, Kultur und Musik. Es kann ein buntes Fest von Katholikinnen, Katholiken und von Christen werden.
Und über den Katholikentag hinaus freue ich mich auf die Sitzungen im synodalen Ausschuss, weil wir auch dort den Weg weitergehen; auf Begegnungen, die wir mit Partnern im europäischen Ausland haben werden.
Wir werden ganz sicher auch mit vielen Menschen weiter Kontakt halten, die wir auf anderen Kontinenten kennengelernt haben, von Australien bis zur Amazonassynode. Da gibt es eine Reihe von Delegierten, mit denen wir verbunden sind. Und auf all diese Begegnungen freue ich mich, weil sie in der Regel Vitalisierung der Begegnung sind.
Das Interview führte Elena Hong.