Am Kiosk, im Cafe, auf dem Portal X und in vielen Zeitungsberichten gibt es am Tag nach Beginn der massiven Angriffe der Hamas aus der Luft, zu Land und zu Wasser vor allem eine Frage: Wie konnte das ohne Vorwarnung passieren? Von einem Datum, das man in Israel nicht vergessen werde, ist die Rede. Erinnerungen an den Jom-Kippur-Krieg vor exakt 50 Jahren, als arabische Armeen Israel mit einem Angriff überraschten, kehren zurück. Andere sprechen von einem 11. September Israels. Bei allen herrschen Schock und Entsetzen.
Raketenalarm statt Tanzen mit der Thora
Wie vor 50 Jahren traf es das Land an einem Schabbat, diesmal dem Fest der Thorafreude, das den Reigen der hohen Feiertage im jüdischen Monat Tischri abschließt. Statt mit Thorarollen auf den Straßen zu tanzen, ertönten landesweit seit den frühen Morgenstunden Raketenalarme. Wer so früh draußen war, suchte Zuflucht in Hauseingängen und, wo vorhanden, Bunkern oder außerhalb des städtischen Gebiets im Straßengraben. Im Sekundentakt meldete die Warn-App neue Raketen. Im Süden. Entlang der Küste. Im Zentrum. Dann in Jerusalem. Etliche Male in den nächsten Stunden sollten über der Heiligen Stadt die Sirenen jaulen, eine nie dagewesene Situation.
Die Straßen leerten sich, während sich die grauenvollen Nachrichten über die Lage in Grenznähe zum Gazastreifen häuften. Kämpfer der Hamas seien in verschiedene Ortschaften eingedrungen, hätten Geiseln genommen und wahre Massaker an Zivilisten veranstaltet. Den ganzen Tag über bleibt die Lage unübersichtlich, die Opferzahlen werden regelmäßig nach oben verschoben. Am Sonntagmorgen liegen sie bei über 300 Toten. Zwischen 2008 und 2018 musste Israel nach Zahlen des UN-Büros OCHA insgesamt 52 Tote am Gazastreifen beklagen, alle von ihnen Soldaten. Es ist ein neues Ausmaß der Gewalt.
"Ein ganz normaler Tag"
Auch die Straße vom Neuen Tor in die Jerusalemer Altstadt ist menschenleer an diesem Nachmittag, die Cafes und Restaurants, sonst gerade am Schabbat ein Anziehungspunkt für ein buntgemischtes Publikum aus säkularen Juden, arabischen Altstadtbewohnern und internationalen Besuchern, geschlossen. Einzig ein Kiosk ist offen. Es sei ein ganz normaler Tag, sagt sein Besitzer. Schwer, sich des Eindrucks von Zynismus zu erwehren.
"Prä-apokalyptisch" ist das Wort, mit dem Marc Alibert den kriegerischen Schabbat beschreibt. Der französische Grabesritter, Künstler und Architekt ist für ein Restaurierungsprojekt in Jerusalem und hat wenig Hoffnung, dass sich die Lage in näherer Zeit verbessert. "Sie kommen da nicht raus", sagt er, und meint Israelis und Palästinenser in dem jahrzehntelangen Konflikt.
Die Nachrichten stecken im Hals
"Wir sind mit diesen schlechten Nachrichten aufgewacht und sie "stecken uns noch im Hals", sagt Sami, einer der wenigen, dessen Geschäft in der Altstadt geöffnet hat, "für eine halbe Stunde, für die Altstadtbewohner", sagt er. Erst vor 10 Tagen hat er seine Saftbar "Karkadeh" im Herzen des christlichen Viertels eröffnet. In den 44 Jahren seines Lebens habe er so einen schlimmen Tag noch nicht erlebt. Was heute geschehen sei, sei wie eine weitere "Pandemie für Israel", nur verstehe das noch keiner.
Samis Nachbar aus dem Laden mit den bunten Schals und orientalischen Kissenbezügen stimmt zu. Dies sei erst der Anfang, sagen sie und befürchten Schlimmstes für die nächsten Tage. Obwohl die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern in den letzten Wochen und Monaten immer weiter zugenommen haben, ist man auch hier überrascht über das Ausmaß der Gewalt.
"Ich bin ein Araber, und das ist für uns jetzt gefährlich"
"Nehmt Euch ganz Palästina, aber lasst die Finger von der Al-Aksa-Moschee", versucht einer der beiden eine Erklärung für das Geschehen. Die anhaltenden Übergriffe auf heilige Stätten durch Israelis seien einer der Hauptgründe für die Angriffe der Hamas, sagen sie und fürchten sich um ihre Sicherheit. "Egal, wie friedfertig ich bin, ich bin ein Araber, und das ist für uns jetzt gefährlich", sagt Sami.
Vor der Grabeskirche sitzen Pater Simon Petrus und Schwester Stephanie. Es sind die letzten Tage ihrer Exerzitien im Heiligen Land, bevor die Ordensleute zurück in Obdachlosen- und Sozialhilfe in Augsburg kehren. Es ist nicht der erste Besuch im Heiligen Land, erzählt der Dominikaner. Aber diesmal habe eine bedrückende Stimmung in der Luft gelegen, eine Stimmung, die seine Mitbrüder an der "Ecole Biblique" in Ostjerusalem bestätigten.
Nicht ganz unerwartet
Der Knall sei für sie nicht gänzlich unerwartet gekommen. Angst hätten sie nicht verspürt, sagt der Pater unter zustimmendem Nicken der Vinzentinerin. "Wir sind mit viel kindlicher Naivität, oder eher Gottvertrauen, gesegnet." Während landesweit die Sirenen heulen, widmen die beiden deutschen Ordensleute den Tag dem Gebet für das, was das Land und seine Völker so dringend bräuchten: Frieden.