DOMRADIO.DE: Ehrlicherweise müssen wir mit dem Rückblick einen Tag vor Beginn des Jahres 2023 beginnen – mit dem Tod des emeritierten Papstes Benedikt XVI. Wissen Sie noch, auf welche Weise Sie davon erfahren haben?
Franz-Josef Overbeck (Bischof von Essen): Ich hatte immer aufgrund meiner Lebensgeschichte eine enge Beziehung zu Papst Benedikt XVI. – schon als Joseph Kardinal Ratzinger. Er hat mich damals in Rom zum Priester geweiht und mich auch jeweils zum Bischof von Essen und zum katholischen Militärbischof für die deutsche Bundeswehr ernannt, aber auch zum Weihbischof vorher schon.
Ich habe gewusst, dass sein Leben sich neigt und von daher es im Gebet begleitet. Dann ganz früh am Morgen des Silvestertages – er ist ja in den Morgenstunden dann zu Gott heimgegangen – habe ich davon gehört. Ich konnte beten, aber auch gleichzeitig entsprechend öffentlich dazu Stellung nehmen, um noch einmal auf sein Leben zurückzuschauen.
DOMRADIO.DE: Das Jahr 2023 war auch für Ihr Bistum ein einschneidendes Jahr. Eine Missbrauchsstudie wurde veröffentlicht und hat 423 Missbrauchsfälle seit der Gründung im Jahr 1958 aufgezeigt. Dann sind auch Anschuldigungen gegen Franz Kardinal Hengsbach bekannt geworden, einem der prominentesten Kirchenmänner der deutschen Nachkriegsgeschichte. Da haben sie auch Versäumnisse eingeräumt. Was hat das mit Ihrem Bistum gemacht?
Overbeck: Es ist gegründet worden in der Nachkriegszeit 1958, als die ersten 20 Zechen bei uns in Essen und in der Umgebung geschlossen wurden. Damit kündigte sich an, was 2018 vollbracht war, dass es nämlich keinen Steinkohlebergbau mehr bei uns gibt. Und damit war historisch einer der Gründe, warum es unser Bistum gibt, entfallen.
Das heißt, wir sind in einer Situation, in der wir uns neu orientieren und das auch schon seit Jahren tun und fragen: Wie geht eine lebendige Kirche? Hier kann man oft sagen: mitten in der Stadt oder zumindest auch auf dem Land mit einem städtischen Bewusstsein der meisten Gläubigen. Und unter der Voraussetzung, dass viele unserer Gläubigen mittlerweile aus muttersprachlichen Gemeinden, aus Migrationshintergründen kommen.
Von hier her noch einmal den Missbrauch anzuschauen, war natürlich der Blick in den Abgrund angesichts einer Kirchengestalt, die dabei ist zu vergehen. Das zeigt uns aber deutlich, wir müssen Themen neu sehen: Wie gestalten wir das Machtgefüge der Kirche? Was bedeutet das für mich als Bischof – und alle, die Mitverantwortung tragen? Wir müssen die Fragen aber auch sehen: Was heißt das für die Präsenz von Priestern, deren Zahl dramatisch zurückgeht?
In meinen 14 Jahren als Bischof von Essen habe ich um die 300 Priester zu Grabe getragen und nur 15 geweiht, sodass wir wirklich in eine neue Kultur kommen. Das schürt sich praktisch in den Fragen, die vom Missbrauchsskandal auf uns gekommen sind. Da haben wir im Bistum viel unternommen.
Es ist noch einmal wie in einem Brennglas durch die Anschuldigungen im Blick auf die Rolle meines Vorgängers Franz Kardinal Hengsbach deutlich geworden und hat gezeigt: Es gibt keine Sicherheit mehr. Und es ist auf keinen Fall gut, Menschen auf Sockel zu stellen, wo sie nicht hingehören, sodass wir ja auch ein Denkmal für meinen Vorgänger auf dem Domhof abgebaut haben. Gleichzeitig stecken wir jetzt in der Phase, intensiver zu untersuchen, was an den Anschuldigungen dran ist, jenseits von denen, die wir ja schon gut untersucht haben.
Insofern ist das Jahr 2023 ein Jahr, das noch einmal die Themen zusammenfasst, mit denen wir uns als Kirche mitten in der Moderne zu beschäftigen haben. In der Moderne anzukommen heißt, hinter einer solchen Vielfalt das zu leben, erstmalig eine Generation zu sein, die frei entscheiden, ob sie glauben will oder nicht. Deren sozialer Zwang, wie es ja jahrhundertelang der Fall war, keine Rolle mehr spielt in dieser Entscheidung. Und die sich aber auch neu fragt: Wie leben wir das eigentlich persönlich? Und wie leben wir es als Institution?
Von daher gesehen bin ich nachdenklich, aber zugleich auch mit Kraft auf dem Weg mit ganz vielen zusammen an dieser Neugestaltung der Kirche auf dem Hintergrund einer 2000-jährigen Tradition und Geschichte weiterzubauen.
DOMRADIO.DE: Vor dreieinhalb Jahren war die MHG-Studie Ausgangspunkt für einen anderen Transformationsprozess, nämlich den Synodalen Weg. Im März dieses Jahres gab es in Frankfurt dann das Ende dieses dreijährigen Großprojekts mit der Aussicht auf einen Synodalen Ausschuss und einen Synodalen Rat. Wie erfolgreich war das Projekt "Synodaler Weg" aus Ihrer Sicht? Können die Ergebnisse die katholische Kirche langfristig verändern?
Overbeck: Wir haben in der Kirche in Deutschland nach diesem MHG-Projekt deutlich gesehen, dass es Fragen sind, die mit den Strukturen und insofern mit der Institution zu tun haben und an denen zu arbeiten ist. Auf dem Synodalen Weg muss diese Frage der Macht – Wie wird die Kirche von Bischöfen und Priestern geleitet? – mit einer neuen Perspektive verbunden werden, wie zum Beispiel Zusammenarbeit, Mitverantwortung, aber auch mit Entscheidungskompetenz.
Da, meine ich, sind wir auf dem Synodalen Weg einen guten Schritt vorangekommen. Dass das nicht von jetzt auf gleich in Wunder ausartet, das ist mir schon lange klar. Aber im Bistum Essen und auch in der Militärseelsorge, die ich verantworte, sind wir schon einen guten Schritt weitergekommen.
Im Blick auf die Fragen der Sexualmoral und des Umgangs damit haben wir gerade in den letzten Tagen ja gesehen, dass ausgehend durch die Initiative des Papstes und des Dikasteriums für die Glaubenslehre die Frage der Segnung von Partnerschaften, die wir lehramtlich vorher nicht in den Blick nehmen durften, auch einen Schritt weitergekommen sind. Auch auf dem Synodalen Weg hatten wir durch einen eigenen Text schon bestimmt, dass es möglich sein müsste, Menschen in, wie es dort heißt, "nichtregulären" Situationen, segnen zu können, wenn sie darum bitten.
Konkret geht es um geschieden wiederverheiratete Ehepaare und auch um homosexuell in Partnerschaft lebende Menschen. Viele in diesen Tagen halten das für zu wenig. Angesichts dessen, was ich vorher schon erlebt habe, ist es ein Riesenschritt. Manchmal erlaube ich mir dann auch ein schönes Wort von Neil Armstrong, als er den Mond betrat: Ein kleiner Schritt für einzelne Menschen, aber ein großer Schritt für die Kirche. So sehe ich deswegen auch die Ergebnisse des Synodalen Weges.
DOMRADIO.DE: Trotzdem wollen wir noch einmal in den Oktober schauen. Da waren Sie bei der Weltsynode dabei, einer von fünf Bischöfen aus Deutschland. Wenn Sie daran zurückdenken: Welche Gefühle kommen da hoch?
Overbeck: Die wichtigste Erfahrung, die ich dabei gemacht habe, ist, dass die Form des Zusammenseins wesentlich bestimmt war vom Anhören verschiedener Meinungen. Das war vom Stil her für viele von uns etwas Neues. Das hat uns auch geprägt in unserer großen Unterschiedlichkeit, da wir immer alle drei Tage wieder in neuen Runden mit gänzlich anderen Menschen zusammensaßen, die eben aus der ganzen Welt kamen.
Was wir da in den kleinen Gruppen, aber auch in den großen Runden, in denen wir miteinander geredet und einander zugehört haben, erkennen konnten, war, dass eine der großen Herausforderungen der Kirche ihre Größe ist. Wie kann es gelingen, in einer so großen Gemeinschaft mit über 1,3 Milliarden Katholikinnen und Katholiken, zusammen mit so vielen kulturellen Formen, diesen Glauben zu leben? Was heißt eigentlich Inkulturation im Blick auf die Gemeinschaft der Kirche? Und was bedeutet das für die einzelnen Ortskirchen?
Im Blick auf nicht wenige Fragen, die wir auf den Synodalen Weg besprochen haben, haben mir und uns Deutschen nicht wenige gesagt: "Ihr und andere habt uns kolonialisiert, wir lassen uns jetzt nicht mehr von euch kolonialisieren. Wenn ihr glaubt, in Fragen der Machtverteilung in der Kirche und gerade auch der Sexualmoral neue Wege zu gehen, tun wir das nicht. Ihr müsst so genau auf uns hören, wie wir früher auf euch gehört haben."
Momentan bewegen uns weltkirchlich gesprochen vor allen Dingen zwei große Themen. Das erste Thema ist: Welche Gestalt nimmt die Kirche an? Wie geht das Einander von Ortskirche und Weltkirche? Was bedeutet das für die Position des Papstes, die für uns kirchenrechtlich und dogmatisch ja so wichtig ist; im Verhältnis zu uns Bischöfen und dann noch einmal im Verhältnis zum gesamten Volk Gottes?
Wir können das gerade analog studieren in den Auseinandersetzungen, die wir in den großen Bündnisstrukturen der Welt haben. Denken Sie nur an die NATO oder auch an die Europäische Union. Auf einer ganz anderen Weltebene finden da ähnliche Prozesse statt.
Die zweite große Herausforderung besteht darin, mehr zu verstehen, wer wir Menschen eigentlich sind. Wir selbst haben das im Blick auf die Frage des Zueinanders der Geschlechter lange diskutiert und mit dem Blick auf die Frage, wer welches Amt in der Kirche haben kann. Und dann dachte ich auch wieder an die Auseinandersetzungen, die es momentan gibt.
Schauen Sie in den Nahen Osten, wo die Vorstellungen der Rolle von Männern und Frauen sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben uns vor große Herausforderungen stellen. Oder im Blick auf das Ethische, das wir doch immer wieder für unser gelingendes Menschsein bedenken müssen. Was bedeutet das für den Lebensanfang und das Lebensende, wenn wir Christen sind oder auch nicht glauben?
Denken Sie an die Debatten um den Paragrafen 218 Strafgesetzbuch, die uns momentan auf der Ebene des Bundestages bewegen. Oder auch die Fragen nach dem sogenannten assistierten Suizid. Wir hatten in der Synode Fragen vor uns, aber auch Perspektiven, von denen ich dachte, sie sind nicht nur einfach christlich, sondern menschlich und betreffen alle.
DOMRADIO.DE: Das Jahr war geprägt von Auseinandersetzungen zwischen der Kirche in Deutschland und dem Vatikan. Die Reformen waren mal wieder der größte Streitpunkt. Wie würden Sie die Beziehungen zwischen der deutschen katholischen Kirche und Rom zum jetzigen Zeitpunkt in wenigen Worten beschreiben?
Overbeck: In einer fruchtbaren und intensiven Spannung stehen wir als Kirche in Deutschland mit der Weltkirche.
DOMRADIO.DE: In diesem Jahr gab es auch viele besprechenswerte Personalien. Zuletzt zwei Namen, die als Erzbischöfe in Bamberg und Paderborn eingesetzt werden. Zuvor der Rücktritt von Bischof Franz-Josef Bode unter anderem wegen Fehlern bei der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in seinem Bistum. Bischof Gebhard Fürst ist aus Altersgründen ausgeschieden. Das Rücktrittsangebot aus Köln dagegen wurde faktisch abgelehnt, zuvor das von Kardinal Marx 2021. Ist das eine gute Aufstellung für die katholische Kirche in Deutschland für 2024? Wie sehen Sie das?
Overbeck: Mit den beiden Erzbischof von Bamberg und Paderborn gilt es – dessen bin ich mir sicher – gemeinsam gute Wege zu gehen. Das tun wir mit beiden, die ja schon lange Weihbischöfe in der Bischofskonferenz gewesen sind, seit langen Jahren. Ansonsten, glaube ich, ist es notwendig, den Realismus gelten zu lassen, dass auch die Kirche in ihrer Einheit sehr viel Unterschiedlichkeit kennt. Und ich als Bischof von Essen setze auf die positive Wirkung des Wirkens des Heiligen Geistes. Das tue ich bereits 14 Jahre, um mit allen beieinander zu bleiben. Die Kirche ist wie eine Familie, und man muss schon pflegen, was einen verbindet, damit man aushält, was einen unterscheidet, möglicherweise auch trennt.
Das Interview führte Elena Hong.