Jetzt hat es auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) schwarz auf weiß: Auch in ihren Reihen wurden erschreckend viele Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Auch sie hat viele Taten vertuscht.
Die am Donnerstag in Hannover vorgestellte Studie im Auftrag der EKD beendet eine Stellvertreter-Debatte. Denn bisher wurde das Problem überwiegend auf die katholische Kirche beschränkt - und auch deshalb nur unzureichend bekämpft.
Laut Hochrechnungen der Forscher sind seit 1946 im Bereich der EKD und Diakonie 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden.
Rund 3.500 Beschuldigte
Die geschätzte Zahl der Beschuldigten liegt bei rund 3.500, mehr als ein Drittel davon Pfarrer. Bei fast allen Beschuldigten handelt es sich um Männer, die meisten von ihnen waren bei der Ersttat verheiratet.
Die Zahlen zeigen: Wer die verpflichtende Ehelosigkeit katholischer Priester als Ursache des Problems sieht, macht es sich viel zu einfach. Denn in der evangelischen Kirche gibt es keinen Zölibat und trotzdem viele Missbrauchsfälle. Klar ist aber auch: Die Verantwortlichen in der katholischen Kirche können sich nicht zurücklehnen. Ihre Aufarbeitungsarbeit ist noch lange nicht beendet.
Nach Ansicht von Experten taugt die neue Studie nicht als Argument für Konservative, um den Synodalen Weg zu stoppen. Bei dem katholischen Reformprozess geht es unter anderem um eine neue Sexualmoral, auch der Zölibat wird auf den Prüfstand gestellt. Schon die katholische MHG-Studie von 2018 ergab ja: Der Zölibat kann potenzielle Täter ins Priesteramt locken, die pädophil veranlagt sind oder Schwierigkeiten mit ihrer Sexualität haben.
Der Historiker Thomas Großbölting, der an der Forum-Studie beteiligt war, sieht bestimmte Risikofaktoren in der katholischen Kirche, die Tätern den Missbrauch ermöglichen: "eine Sexualmoral, die viele Formen von Sexualität ausgrenzt und zu einer allgemeinen Doppelmoral führt, sowie die Hierarchie, die den geweihten Priester in eine besondere Machtposition bringt. In den protestantischen Kirchen gebe es andere Risikofaktoren wie etwa die stilisierte Rolle des evangelischen Pfarrhauses. "Das bedeutet nicht, dass die katholische Kirche auf die Aufarbeitung ihrer eigenen Risikofaktoren verzichten könnte."
Ruf nach Konsequenzen in der EKD
Angesichts der hohen Zahlen wird der Ruf nach Konsequenzen in der EKD lauter. Betroffene befürchten, dass die Studie schöngeredet werde und kaum Folgen habe. "Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung", kritisiert die Betroffenenvertreterin Katharina Kracht.
Die Untersuchung legt nahe, dass der Faktor Machtmissbrauch eine größere Rolle spielt als bislang angenommen. Er lässt sich sowohl in streng pietistischen Gemeinden als auch in reformorientierten Gemeinden finden, in der der Pfarrer geduzt wird und in der er ein Vertrauensverhältnis ausnutzt.
Auch außerhalb der Kirchen - in Familien, Vereinen, Sportverbänden und Schulen - werden viele Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Experten sehen den Staat in der Pflicht, stärker dagegen vorzugehen. Den Kirchen hat der Staat die Aufarbeitung bisher weitgehend selbst überlassen. "Ich glaube nicht, dass sich diese Strategie bewährt hat", sagt der Historiker Großbölting. "Wenn man aus den Erfahrungen seit 2010 lernen will, ist sicher der Staat gefragt, hier mehr zu machen."