Zollner sieht noch großen Bedarf bei Missbrauchsaufarbeitung

"Unsere moralische Verantwortung"

Vor fünf Jahren hat das große Anti-Missbrauchstreffen im Vatikan stattgefunden. Pater Hans Zollner war an der Planung des Treffens beteiligt. Er sieht weiterhin Probleme bei der Aufarbeitung von sexueller Gewalt in der Kirche.

Hans Zollner, Direktor des "Institut für Anthropologie - Interdisziplinäre Studien zu Menschenwürde und Sorge für schutzbedürftige Personen" (IADC) / © Marco Bonomi (KNA)
Hans Zollner, Direktor des "Institut für Anthropologie - Interdisziplinäre Studien zu Menschenwürde und Sorge für schutzbedürftige Personen" (IADC) / © Marco Bonomi ( KNA )

DOMRADIO.DE: Hat sich ein Umdenken in der Kirche beim Thema Missbrauch und Kinderschutz eingestellt? 

Pater Hans Zollner (Kinderschutzexperte): An vielen Fronten und in vielen Ländern hat es Veränderungen gegeben. Viele kirchliche Verantwortungsträgerinnen und -träger gehen deutlich bewusster und aktiver mit dem Thema um und gehen auf das Thema zu. Dass die gesamte Kirche eine durchgehende Kehrtwende gemacht habe und jetzt die Betroffenen zum Beispiel ohne Wenn und Aber in den Mittelpunkt stellen würde, davon sind wir noch weit entfernt. 

DOMRADIO.DE: Woran machen Sie das fest? 

Zollner: Es gibt immer noch viele Gegenden in dieser Welt, in denen die katholische Kirche, Bischöfe, Provinziäle, aber auch Laien einen weiten Bogen um das Thema Missbrauch und Prävention von Missbrauch machen. 

Hans Zollner

"Es gibt viele Gründe, warum das Thema in manchen Gegenden weiterhin weggeschoben wird."

Sie glauben, dass das für sie kein Thema sei, dass es längst vorbei sei, und dass es in ihren Gegenden und Ländern so etwas nicht gäbe. Es kann auch sein, dass sie persönlich Verantwortung für Versagen tragen, diese jedoch nicht übernehmen wollen. Es gibt viele Gründe, warum das Thema in manchen Gegenden weiterhin weggeschoben wird. 

Ich sehe jedoch in bestimmten Zusammenhängen und bei bestimmten Gruppen von Leuten auch eine viel größere Aufmerksamkeit und Bereitschaft, zu handeln. 

DOMRADIO.DE: Das ist nicht bloß eine weltkirchliche Frage, welche Regionen das sind. Der emeritierte Papst Benedikt hat einen guten Monat nach diesem Treffen gesagt, dass das Übel des Missbrauchs von außen an die Kirche herangetragen wird. Sehen Sie fünf Jahre später immer noch diese Tendenzen, dass man das innerhalb der Kurie nicht wirklich wahrhaben will? Oder hat sich zumindest das geändert, dass man verstanden hat, dass es ein internes Problem ist, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen?  

Zollner: Zunächst, und um der Wahrheit willen: Papst Benedikt hatte schon vorher mit Blick auf den Missbrauch geäußert, dass es "viel Schmutz innerhalb der Kirche" gebe. Sodann, es gibt große Unterschiede auch im Vatikan. Da gibt es Menschen, die sehr aktiv sind und auch die Präventionsarbeit zum Beispiel unterstützen, die wollen, dass es eine stärkere Konzentration von Kräften und Schulungsmaßnahmen allerorten gibt. Es gibt aber auch jene, die das auf die lange Bank schieben oder leugnen wollen. 

Hans Zollner

"Es gibt solche, die aufklären wollen und jene, die auch weiterhin vertuschen."

Das ist im Vatikan nicht anders als in anderen Ländern der katholischen Kirche und in allen Institutionen. Es gibt solche, die aufklären wollen, und gleichzeitig jene, die auch weiterhin lieber vertuschen wollen. Da gibt es Leute, die sich den Betroffenen zuwenden und offen sind für Dialog und Aufarbeitung, und jene, die das Wort „Aufarbeitung“ nicht mehr hören können. 

DOMRADIO.DE: Machen wir das mal konkret. Das handfeste Ergebnis des Treffens 2019 war das Dokument „Vos estis lux mundi“, das unter anderem klärt, wie mit Bischöfen und Würdenträgern umzugehen ist, wenn sie selbst Täter geworden sind oder vertuscht haben. Nun gab es in den vergangenen Jahren auch in Deutschland mehrere Fälle von Diskussionen und Vertuschungsvorwürfen. Es gibt die Erzbischöfe Woelki, Marx, Heße, die Rücktritte angeboten haben, wo aber am Ende nicht darauf reagiert wurde. Meine Frage: Hat dieses Dokument überhaupt etwas gebracht, wenn solche Fälle keine Konsequenzen haben? Oder ist das etwas, was in der Praxis eigentlich gar keine Rolle spielt?

Hans Zollner

"Die Anwendung solcher Gesetze ist, wie bei vielen anderen Fragen in unserer Kirche leider nicht mit der nötigen Nachhaltigkeit garantiert." 

Zollner: Bis jetzt hat es zwei Wirkungen gehabt. Das erste, dass es tatsächlich in einigen Fällen, zum Beispiel in Polen oder auch in den USA, Bischöfe gab, denen man nachweisen konnte, dass sie Fälle nicht entsprechend behandelt, weitergemeldet oder verfolgt hatten. Sie wurden dann dazu angehalten, zurückzutreten oder ihr Rücktrittsgesuch einzureichen, was dann auch angenommen wurde. So wie es normalerweise in der Kirche geht. 

Das große Problem dabei ist, dass das nicht flächendeckend konsistent angewandt wird. Wir sehen weder, dass das in allen Teilen der Welt gleich angewendet wird, noch dass die Begründungen geliefert werden, warum es in dem einen Fall zur Annahme von solchen Rücktrittsgesuchen kommt oder zur Aufnahme von Verfahren und im anderen Fall nicht.

Ich möchte auch eine zweite Wirkung dieses Gesetzes benennen, die sich nicht einfach nur an der konkreten Umsetzung bemessen lässt. Es geht dabei nicht nur um Bischöfe, sondern auch um Provinziäle, Generaloberinnen und Generalobere, und auch um Laien, die in Gemeinschaften Verantwortungen tragen. Diese Verantwortungsträger sind sich mittlerweile bewusster, dass sie mit kirchenrechtlichen Sanktionen belegt werden können, wenn sie nicht entsprechend den kirchlichen Normen handeln. Das Bewusstsein ist deutlich gewachsen. Die Anwendung solcher Gesetze ist leider nicht mit der nötigen Nachhaltigkeit garantiert. 

Hans Zollner

"Es ging außerdem darum, Rechtssicherheit zu schaffen."

Also wenn ein Bischof selber missbraucht hatte, oblag das schon bisher denselben Gesetzen, wie sie auch für Priester gelten. Es ging bei diesem Gesetz von 2019 darum, dass zum ersten Mal Schritte in Richtung einer Definition und Sanktionierung von Rechenschaftspflichten von kirchlichen Amtsträgern und -trägerinnen gegangen wurden. Es wurden auch zum ersten Mal Frauen inkludiert. Es ging darum, Rechtssicherheit zu schaffen. Aber: Wie werden Gesetze, die die Kirche selber erlassen hat, in der Praxis umgesetzt? Wie wir sehen, ist das noch ein weiter Weg, weil weiterhin dieses Nachhalten von Gesetzen und deren Anwendung sowie das Monitoring nicht funktionieren. Monitoring ist die Aufgabe zu überprüfen, ob das tatsächlich in der Praxis ankommt.

DOMRADIO.DE: In den letzten fünf Jahren hat sich auch der Status der Kinderschutzkommission im Vatikan geändert. Die wurde bei der Kurienreform im vergangenen Jahr dem Glaubensdikasterium untergeordnet. Sie sind selber vergangenes Jahr aus Protest aus dem Gremium ausgeschieden. Wie blicken Sie heute auf die Arbeit der Kommission? Da gibt es immer noch Stimmen, die sagen, dass das unkonkret und schwammig ist, wie es im Moment aussieht.

Zollner: Ich habe als einen der Gründe genannt, dass mir nicht klar war, wofür die Kommission verantwortlich ist, und wie sie die Dinge, die ihr angetragen werden und für die sie sich selber auch verantwortlich zeigen will, umsetzen kann:  

Wie kann sie die Aufgaben, die die Kommission als ihre eigenen definiert, überhaupt erfüllen, wenn die Anzahl von Mitarbeitenden generell gering ist und die entsprechende Zahl von Fachvertretern sehr begrenzt ist, vor allem im Bereich Kirchenrecht? 

Hans Zollner

"Da konnte ich nicht mehr mitmachen, weil ich nicht vorgeben kann, dass ich etwas erfülle, was tatsächlich nicht umsetzbar ist."

Also ich sehe nicht, dass man zu dem kommt, was man eigentlich vorgibt. Da konnte und wollte ich auch deswegen nicht mehr mitmachen.  

DOMRADIO.DE: Was denken Sie, was kommt in den nächsten fünf Jahren auf die Weltkirche beim Thema Missbrauch zu? Sie haben jetzt ein sehr differenziertes Bild gezeichnet. In einigen Ecken hat sich etwas verändert, in anderen Ecken nicht. Was denken Sie, was muss passieren oder wird bei dem Thema noch passieren? 

Zollner: Ich bin kein Orakel. Da hat sich über die letzten Jahre und Jahrzehnte, solange ich das jetzt verfolge, vieles rapide verändert und in so verschiedene Richtungen verändert, dass es schwer ist, etwas Konkretes vorauszusagen. 

Meine Wahrnehmung auch von meinen Reisen in Länder in Asien, Lateinamerika oder Afrika ist, dass das Thema in diesen Erdteilen eine größere Bedeutung bekommen wird. Ich habe gesehen, dass in einigen dieser Länder das Bewusstsein gewachsen ist sowie die Bereitschaft, sich ausbilden zu lassen und entsprechende Stellen einzurichten.

Viele der Studierenden, die an unserem Institut für Anthropologie ihre Ausbildung im Bereich „Safeguarding“ absolvieren, kommen aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Deshalb glaube ich, dass insgesamt mehr Kompetenz da sein wird, wenn es in jenen Ländern zu einer größeren öffentlichen Wahrnehmung der Schwere und der Breite von sexueller Gewalt in Kirche, in Gesellschaft und in allen Religionen kommen wird. 

Hans Zollner

"Ich hoffe sehr, dass es auch in den nächsten fünf Jahren zu einer Klärung der Verantwortlichkeiten in der Kirchenleitung kommt." 

Ich glaube, dass wir weiterhin an der Veränderung von kirchenrechtlichen und anderen Normen arbeiten müssen. Es muss vor allem zu einer größeren Sensibilisierung, zur Begegnung mit Betroffenen kommen. Ich glaube, das ist unsere Aufgabe, unsere moralische Verantwortung. 

Ich hoffe sehr, dass es auch in den nächsten fünf Jahren zu einer weiteren Klärung der Verantwortlichkeiten in der Kirchenleitung kommt und zu einer größeren politischen Gewichtung dieses Bereiches. Das ist leider, wie gesagt, über die letzten zehn Jahre noch nicht unbedingt sichtbar geworden.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Quelle:
DR