DOMRADIO.DE: Der Jahrestag des rassistischen Anschlags von Hanau fällt in eine Zeit, in der viele empört sind über das Wiederaufleben rassistischen Gedankenguts in Deutschland – Stichwort: Deportationsfantasien. Welche Rolle spielt diese Gemengelage für das Gedenken an die Toten von Hanau?
Pfarrer Andreas Weber (Dechant von Hanau): Diese Gemengelage vermischt sich mit dem Gedächtnis an die Opfer des damaligen Anschlages.
Dieser Anschlag hat sich tief in das Gedächtnis der Stadtgesellschaft eingebrannt. Eine Wunde, die kaum zu heilen scheint.
Die wird aber immer neu geschürt. Durch diese Gemengelage mit rechtsextremen Tendenzen, die wir in unserer Gesellschaft spüren. Wir hatten eine große Demonstration gegen Rechtsextremismus und Rassismus schon im Vorfeld des Anschlagstages. Daran haben sich viele aus der ganzen Stadt beteiligt.
DOMRADIO.DE: Die zentrale Gedenkveranstaltung findet auf dem Hauptfriedhof von Hanau mit der Bundesinnenministerin, mit dem Oberbürgermeister und dem stellvertretenden hessischen Ministerpräsidenten statt. Es gab und gibt aber viele weitere Gedenkinitiativen, wie zum Beispiel einen Jugendgottesdienst und einen interreligiösen Gottesdienst am Wochenende. Wie erleben Sie diese Gedenkarbeit?
Weber: Diese Gedenkarbeit ist wichtig für diejenigen, die den christlichen Gemeinden angehören, aber auch über die Religionen hinaus in den interreligiösen Feiern. Wir haben einen jüdisch-christlichen Gottesdienst im Gedenken an den Anschlag. Wir sind mit der jüdischen Gemeinde eng befreundet und gestalten auch mit der Wallonisch-niederländischen Kirche gemeinsam einen Gottesdienst.
Das geht reihum. Der ist auch mal in der Synagoge. Das ist ein fester Bestandteil am Anschlagstag. Wir wollen dadurch deutlich machen, dass weder Rassismus noch Hass oder Antisemitismus einen Platz für uns Christen hat.
DOMRADIO.DE: Das Attentat von vor vier Jahren war eine Zäsur für die Stadt Hanau. Was ist davon bis heute noch spürbar?
Weber: Das ist eine große Schockwelle gewesen. Bei den Opferfamilien spüren wir immer noch eine tiefe Wunde, eine große Unzufriedenheit, große Vorwürfe an die Politik, an die Polizei und an die Stadt. Obwohl die Stadt sich sehr bemüht. Diese Wunde ist scheinbar kaum zu schließen. Es gibt Initiativen, die das begleiten. Die Stadt findet ihren normalen Alltag wieder.
Wir haben eine aufstrebende Stadt mit neuem Wohnraum aus Konversionsflächen von alten Kasernen. Hier entstehen sehr schöne Wohngebiete mit vielen Leuten, die einen Migrationshintergrund haben.
Wenn ich in unsere Pfarreien hier in der Stadt schaue, dann hat eine hohe Zahl von Leuten einen Migrationshintergrund. Wenn Sie sonntags zu uns zur Kirche kommen, dann sehen Sie alle Hautfarben von ganz dunkel bis ganz hell. Diese bunte Vielfalt prägt unsere Stadt. Ich sage immer, so ähnlich wie im alten Korinth bei Paulus, wo viele zusammenkamen – auch aus unterschiedlichen Religionen. In Hanau gibt es ein gutes Miteinander.
Diese Zäsur hat bewirkt, dass wir stärker zusammenstehen, auch in den Veranstaltungen, an denen wir als Christen teilnehmen wie bei der Kranzniederlegung. Die soll dieses Jahr ohne Ansprachen sein. Dieses Gedenken ist wichtig.
DOMRADIO.DE: Wo sehen Sie die Rolle der Kirchen bei Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit?
Weber: Die Rolle der Kirche ist gerade bei den jungen Leuten wichtig. Die Opfer, die damals umgebracht wurden, waren Hanauer – natürlich mit einem Migrationshintergrund. Wir haben in unserer Pfarrei viele junge Leute, die mit denen in die Schule gingen, im Kindergarten waren und sich im Sport mit ihnen betätigt haben. Die laden wir zum Gottesdienst ein. Am Sonntag waren die schon in den Hauptgottesdiensten zusammen. Wir haben dort für sie gebetet.
Die jungen Leute berichten von ihren Erfahrungen. Anhand dieser Erfahrungen leisten auch Erwachsene Erinnerungsarbeit. Es ist ganz nah, das war ein Anschlag in der Nachbarschaft.
DOMRADIO.DE: Während Hanau des rassistischen Anschlags vor vier Jahren gedenkt, sehen gleichzeitig Umfragen die AfD mit ihren extremistischen Tendenzen weit vorn. Was läuft da schief in Ihren Augen?
Weber: Es gibt eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Das spüren wir. Wir haben auch in Hanau starke Prozente von AfD-Wählern. Wir versuchen in Gesprächen und in den Gottesdiensten deutlich zu machen, dass das für uns keine Option ist.
Unsere jungen Erwachsenen haben in Bezug auf den Anschlag einen Satz geprägt: Der Täter hat allein gehandelt. Wir aber sind vereint in Nächstenliebe und Solidarität und gemeinsam gegen Hass und Rassismus.
Dieser Satz begleitet unsere Anschlags- und Erinnerungstage immer wieder. Es drückt unsere Position aus. Hass und Rassismus haben keinen Platz bei uns, auch nicht in der Gemeinde. Trotzdem spüren wir, dass viele in diese Richtung tendieren. Rechtsextremismus ist stark zu verurteilen und das tun wir auch. In der Jugendarbeit machen wir in diesem Gebiet Fortschritte.
Das Interview führte Tobias Fricke.