DOMRADIO.DE: Der Begriff "Sünde" wird eher im Zusammenhang mit zu schnellem Autofahren genannt oder auch wenn man Süßigkeiten isst, obwohl man gerade eine Diät macht. Für was für Sünden sollen die Gläubigen in der österlichen Bußzeit denn büßen?
Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl (Professorin für Moraltheologie an der Universität Augsburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat): Es stimmt, in der Werbung wird momentan oft von Sünde gesprochen und man ist überrascht, dass dieser Begriff noch so stark vorkommt.
Ich würde sagen, es ist je individuell zu beantworten und ich möchte zwischen Schuld und Sünde unterscheiden. Schuld als meist bestehender Tatbestand und Sünde ist dann eher in Richtung Gottesbeziehung zu denken als ein Handeln oder Nichthandeln in der Gottesbeziehung.
Sünde ist etwas sehr Religiöses und deswegen gibt es diese spannende Beobachtung, wenn Sünde dann in der allgemeinen Sprache vorkommt. Sie haben nach den Sünden gefragt, für die Gläubige büßen sollen.
Früher hat man sich entlang der Zehn Gebote gehangelt. Heute ist es so, dass diese Beschäftigung mit der eigenen Sündhaftigkeit über die Beziehungen zu sich selbst, zu Gott und zu anderen reflektiert wird. Es ist spannend, sich zu überlegen, inwiefern man sich im eigenen Handeln, im eigenen Selbst, in den eigenen Planungen versündigt hat, inwiefern die Gottesbeziehung davon betroffen ist und auch in den Beziehungen zu den anderen und auch zur Umwelt, was als ganz wichtige ökologische Dimension von Papst Franziskus hinzugekommen ist.
Seine Enzyklika "Laudato Si" ist da auch eher mit der Sache der Sünde unterwegs. Diese drei Dimensionen, um die Umwelt erweitert, werden wichtig in dieser Prüfung, welche Sünde denn jetzt in der Fastenzeit gebüßt werden soll.
DOMRADIO.DE: Das Glaubensbekenntnis spricht von der Vergebung der Sünden. Wie muss man sich das moralisch vorstellen, wer "übernimmt" die Sünde und die Strafe, die man dafür bekommt?
Schlögl-Flierl: Das ganze Reden über Sünde und Schuld ist im Theologischen und vor allem im Katholischen mit der Frage der Vergebungsdimension behandelt.
Wer vergibt, das ist natürlich die große Frage, wenn es um Sünden gegen sich selbst oder Sünden gegen andere geht, also da kommen unterschiedliche Akteur*innen mit hinein. Wenn man gegen sich selbst sündigt, dann ist da manchmal Selbstvergebung mit dabei. Bei den anderen auch die Frage: "Wie kann Vergebung und Versöhnung in Beziehungen erreicht werden?"
Vielleicht noch mal zu diesem Strafcharakter, den Sie angesprochen haben: Da versuche ich immer ganz klar zu sagen, dass es vor allem um Bußauflagen geht und sich die Frage stellt: Wie kann ich wirklich umkehren? Sünden zu beichten und beispielweise drei Vaterunser zu beten, das greift wirklich zu kurz. Sondern wie ändert sich die innere Haltung?
Das bedeutet: Wie kann ich denn diese Sünden, die man feststellt oder auch im Gespräch mit dem Priester feststellt, wirklich nicht mehr begehen? Wie kann ich mein Leben, meine Taten, meine Nicht-Taten ändern? Diese innere Umkehr ist eigentlich das, was dieses Bußgeschehen ausmacht.
Ich habe in meiner Habilitation zu einem Dominikaner des 15. Jahrhunderts gearbeitet, der ganz viele Bußschriften verfasst hat, an die Medici zum Beispiel.
Da ist es sehr spannend gewesen, dass er mal gesagt hat: "Es gibt diese äußeren Tatbestände, aber wichtig ist eigentlich die innere Umkehr." Das würde ich gerne an dem Punkt betonen, dass man zur Beichte geht, um Absolution zu erhalten – macht man auch, klar – aber vor allem, um sich zu fragen: Wie kann man es besser machen? Wie kann Leben in Dimensionen zu sich selbst, zu anderen und zu Gott besser gelingen? Das wäre eigentlich die "Gelingensperspektive" auf das Bußgeschehen, das ich stark machen wollen würde.
DOMRADIO.DE: Die Kirche kennt die Begriffe wie "Schwere Sünde" oder sogar "Todsünde". Wie muss man sich das vorstellen, führt Gott eine Art Strichliste und die Schwere unserer Schuld nimmt nach und nach zu?
Schlögl-Flierl: Ich hoffe, dass unser Gottesbild nicht so ist. Aber mit dem Reden von Todsünde und schwere Sünde wird natürlich sofort sowas impliziert, das stimmt. Ich würde als erstes gern mit dem Begriff Todsünde aufräumen. Klar, es klingt immer so nach Todesstrafe, aber was meint Todsünde eigentlich inhaltlich?
Todsünde ist der Beziehungsabbruch zu Gott, die "aversio a Deo". Das heißt, man stirbt nicht den körperlichen Tod, sondern den Beziehungstod zu Gott. Das ist der eigentliche Kerngehalt, da geht es um Vergeben oder auch Nicht-Vergeben, bzw. Nicht-Handeln, wo die Beziehung zu Gott komplett abbricht. Schwere Sünde wird im Katechismus so definiert: Man ist sich dessen bewusst, man begeht sie freiwillig, ohne Zwang.
Und es ist ein Tatbestand, ein objektiveres, also größeres Geschehen. Ich glaube, es hilft manchmal zu unterscheiden, ob es eine rein lässliche Sünde ist, in dem Sinne gar keine zu beichtende Sünde oder eine schwere Sünde, die vor allem wirklich auch vor Gott gebracht werden muss, um in späteren dann diesen Beziehungsabbruch zu Gott zu verhindern. Es soll eher zeigen, dass die Beziehung zu Gott auch immer wieder riskiert werden kann. Da hilft oft zu überlegen: Was kann ich tun, dass genau dieser Beziehungsabbruch nicht vonstattengeht?
DOMRADIO.DE: Auch ein Satz aus dem Glaubensbekenntnis lautet: Jesus wurde für uns gekreuzigt. Sind wir alle Schuld an seinem Tod? Kann Gott nur so uns die Sünden vergeben?
Schlögl-Flierl: Das ist eine tiefere theologische Frage. Aber ich würde darauf antworten wollen, dass die Frage nach der persönlichen Schuld immer wichtig ist zu stellen. Indem Jesus am Kreuz gestorben ist, kann es überhaupt um die Auferstehung gehen.
Das ist eine ganz wichtige Dimension, dass man sagt: Das Kreuz führt hin zur Auferstehung, führt hin zu unserer Erlösung. Also für mich wäre diese Erlösungsdimension ganz wichtig. Vor allem bleibe ich nicht stehen beim: "Er ist gestorben für unsere Sünden", sondern "Wir sind erlöst von Gott." Das wäre für mich wichtig, das in die theologische Fragestellung mit hineinzustellen.
Das Interview führte Mathias Peter.