DOMRADIO.DE: Sind Tiere nicht so etwas wie die Verkörperung unschuldiger Kriegsopfer schlechthin? Schließlich hat sich kein Pferd, kein Hund, keine Brieftaube je freiwillig zum Militärdienst gemeldet.
Prof. Thomas Ruster (Emeritierter Professor für Systematische Theologie der TU Dortmund): Seit Menschen Kriege führen, also seit etwa 8000 vor Christus, sind in diesen Kriegen immer Tiere als lebendige Waffen eingesetzt worden. Sie haben unendlich gelitten und niemand hat sie jemals gefragt.
Es gibt ein "Animals in War Memorial" im Hyde Park in London, an dem steht "They had no choice" ("Sie hatten keine Wahl"). Das trifft in vollem Umfang zu. Sie wurden nicht gefragt und es wurde auch wenig darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeutet, Tiere einfach im Krieg bei Gefahr für ihren Leib und ihr Leben und angesichts all der Quälereien, die das für sie mit sich brachte, einzusetzen.
Es wurde einfach als selbstverständlich hingenommen, dass Tiere dem Menschen zur Verfügung stehen, dass sie zum Mittel seines menschlichen Kriegs werden.
DOMRADIO.DE: Tiere haben im Krieg unterschiedliche Funktionen, zum Beispiel als unfreiwillige Militärgehilfen. Wo werden sie im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine am augenscheinlichsten eingesetzt?
Ruster: Wir wissen, dass auf beiden Seiten Hunde als Spürhunde und als Minensuchhunde eingesetzt werden. Von russischer Seite ist auch verbürgt, dass Hunde mit Sprengladungen versehen in die feindlichen Reihen unter Panzer geschickt werden und die Sprengladung dann ferngezündet wird.
Hunde brauchen intensives Training, um überhaupt einen Kriegseinsatz absolvieren zu können. Den Trainierenden ist dabei immer schon klar, dass das letztlich dazu dient, die Tiere zugrunde gehen zu lassen. Das ist schon eine grausame Sache.
Von ukrainischer, vor allem aber von russischer Seite hören wir auch, dass im Schwarzen Meer Delfine zum Aufspüren von Unterwasserminen eingesetzt werden oder von Tauchern, die möglicherweise Schiffe unter Wasser angreifen könnten.
Aber auch abgesehen von solchen gezielten Einsätzen müssen Tiere durch den Krieg unendlich viel leiden. Durch Zerstörung von Landschaft, von Gewässern, von Biosphären usw. ist für die Tiere ein katastrophaler Zustand im gesamten Kriegsgebiet der Ukraine entstanden.
DOMRADIO.DE: Präsident Selenskyj hat sogar einen Minenspürhund namens "Patron" als Kriegshelden ausgezeichnet. Was zeigt das?
Ruster: Ich will Präsident Selenskyj nicht verurteilen. Aber es liegt ein tiefer Zynismus darin, diesen einen Hund auszuzeichnen, der glücklicherweise überlebt hat. So viele andere – wir kennen ihre Zahl nicht – sind von den Minen oder den Bomben, die sie selbstlos ausgelöst haben, zerfetzt worden. Diese zynische Verachtung der Opfer ist schon sehr befremdlich.
DOMRADIO.DE: Es gab andere, eindringliche Tierbilder aus diesem Krieg. Zum Beispiel das von Landwirten in der Ukraine, die ihre Kühe und Schweine erschießen, damit diese nicht den Russen in die Hände fallen.
Ruster: Tierschutzorganisationen haben viele solcher Beispiele untersucht. In der Ukraine werden in großer Zahl Pferde, Kühe, Rinder, Schafe, Ziegen und auch sehr viel Geflügel gehalten.
Wenn der Krieg herannaht, ein Gebiet zum Kriegsgebiet wird, kann man die Tiere oft nicht früh genug evakuieren. Dann werden sie entweder einfach freigelassen und sie kommen dann meistens in der Umgebung des Krieges um oder aber sie werden erschossen, weil sie nicht mehr herausgebracht werden konnten. Auch das ist eine ganz vehemente Kriegsfolge für die Tiere.
Dann sind da noch all die Haustiere, die ihre Besitzer zurückgelassen haben, als sie die Ukraine verließen. Oder aber Menschen nehmen ihre Tiere mit auf die Flucht und können sie dann in den Aufnahmeländern nicht vernünftig versorgen. Rund um das Kriegsgeschehen in der Ukraine entfaltet sich also ein Tierelend ohne Ende.
DOMRADIO.DE: Flüchtlinge nehmen ihre Haustiere natürlich als ein Stück Heimat mit in die Fremde – und als Freunde. Andere Tiere wiederum halten als Gefährten mitten im Kampfgebiet die Moral der Truppe aufrecht.
Ruster: Ja, das ist ein ganz großes Thema. Oft stehen Tiere tatsächlich am Krieg beteiligten Soldaten auf besondere Weise nahe. Zum Beispiel, wenn Soldaten an der Front Tiere zulaufen – Hunde oder Katzen, aber auch Vögel oder sogar Ratten. Diese zugelaufenen Tiere wachsen dann diesen Menschen, die als Soldaten in einer zutiefst unmenschlichen Umgebung agieren müssen, sehr ans Herz und erhalten ihnen gleichsam ein Stück Menschlichkeit.
Sie erhalten Gefühle von Empathie, Sympathie und Verantwortung, die der Krieg ansonsten verhindert. Der Krieg ist ja ein großer Verhinderer guter Gefühle. Solche Gefühle können im Krieg nicht ausgelebt, aber an Tieren eben doch noch ausgeübt werden.
Aus dem Ersten Weltkrieg gibt es ausführliche Berichte von Menschen, die jahrelang in Schützengräben hockten und jeden Tag mit Tod und Sterben konfrontiert waren. Diese Soldaten haben oft sehr enge Beziehungen zu ihren "Maskottchen" – so nannten sie die Tiere – aufgebaut und gepflegt. Sie haben an ihnen sozusagen Menschlichkeit wieder gelernt. Das ist fast paradox, Tiere lehren Soldaten im Krieg Menschlichkeit.
DOMRADIO.DE: Wir lesen das berühmte "Macht euch die Erde untertan!" in der Schöpfungsgeschichte heute oft so, dass wir daraus menschliche Verantwortung für die Schöpfung ableiten. Was bedeutet das aus theologischer Sicht für den Einsatz von Tieren als Kriegswaffen und Kanonenfutter?
Ruster: Interpretationen, die in dem Herrschaftsauftrag eine Art "Stewartship" (Im Sinne von Hege und Pflege, Anm. d. Red.) für Tiere sehen, sind in meinen Augen ökologisch geschönt. Der Ausdruck im Hebräischen bedeutet schließlich so viel wie "zermalmen, niedertreten". Da geht es tatsächlich um Herrschaftsausübung Untergebenen gegenüber. Das können wir nicht leugnen.
Die Bibel ist eben ein Produkt der agrokulturellen Wende, also des Übergangs zur Viehwirtschaft, zur Weidewirtschaft, zum Ackerbau, zur Sesshaftigkeit, also der sogenannten neolithischen Revolution. Wesentlich bestand diese kulturelle Wende darin, Tiere nutzbar zu machen, sie als Nutztiere zu halten, aber sie eben auch zu schlachten. Damit waren die Mensch-Tier-Verhältnisse gegeben.
Die Bibel heißt das gut. Mit dem Herrschaftsauftrag gibt Gott gleichsam seinen Segen zur neolithischen Revolution. Viele Autorinnen und Autoren lesen das auch so und da liegt ja auch etwas Wahres drin. Der Mensch wird sich im Zuge der Sesshaftwerdung, im Zuge der Domestikation von Tieren bewusst, dass er nicht nur einfach ein willenloser Teil des Naturzusammenhangs ist, wo es immer ums Fressen und Gefressen-Werden geht.
Menschen haben in der frühen Zeit immer die Erfahrung gemacht, dass sie Raubtieren ausgeliefert waren, dass sie jederzeit selbst zur Beute für andere, zum Lebensmittel für andere werden konnten. Gegen diesen Zusammenhang gibt es gleichsam einen Protest, ein Aufbäumen. Jetzt geht es darum, in die Natur einzugreifen, sie nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, nicht einfach willenlos dabei zu sein.
Trotz allem sehe ich das in diesem Herrschaftsauftrag auch als etwas Gutes und Positives. Es ist sozusagen das Erwachen des Subjekts. Der Mensch begreift sich als jemand, der der Natur gegenübersteht. Aber leider haben die Menschen diesen Herrschaftsauftrag dann überwiegend so ausgeübt, dass sie sich zwar selbst als Subjekt erfahren haben, aber zugleich die Tiere wie Raubtiere behandelt und sie sich unterworfen haben, deren Leben als bloßes Mittel für die eigene Selbsterhaltung benutzt haben.
Das ist die tragische Seite des biblischen Herrschaftsauftrags. Und die Frage wäre eben, wie wir dahin gelangen, dass auch Tiere als Mittelpunkt ihres eigenen Lebens erfahren werden können, als Wesen also, für die ihr Leben Selbstzweck ist. Das Subjekt-Sein ist ja nicht allein für Menschen reserviert. Darin könnte auch der positive Impuls dieses Herrschaftsauftrags für heute liegen.
Ich habe eben schon angedeutet, dass der Krieg tatsächlich solche Erfahrungen bereitstellt, wo Menschen Tiere in ganz neuer Weise als ihre Nächsten erfahren können, als die, die sie wie Menschen behandeln, von denen sie ohne Beurteilung ihres Wertes oder ihrer Kampfkraft einfach angenommen werden. Das könnte wirklich ein Weg dazu sein, die ganze Logik des Krieges, die ja auf Unmenschlichkeit beruht, in Frage zu stellen.
DOMRADIO.DE: Wer Tiere im und für den Krieg missbraucht, könnte das gleiche auch mit Menschen tun. Ist das aus Ihrer Sicht ein naheliegender Schluss?
Ruster: Ja, das finde ich sehr naheliegend. Der Krieg ist eine Erfindung der Menschheit, die der Mensch erst in der jüngsten Phase seiner Geschichte gemacht hat, also seit der neolithischen Revolution vor circa 5.000 bis 10.000 Jahren. In der ganzen Zeit, in den Millionen Jahren davor, gab es keinen Krieg im eigentlichen Sinne.
Diese kulturelle Erfindung Krieg beginnt vermutlich – das sagen heutige Kulturwissenschaftler und Historiker – gleichzeitig mit der Unterwerfung der Tiere, von der aus dann die Unterwerfung der Menschen ihren Fortgang nimmt. Also entsteht die Tierhaltung, das Nutzbarmachen von Tieren gemeinsam mit der Sklaverei und der Idee, dass Frauen und Kinder dem Grundbesitzer, dem Patriarchen untertan und sein Eigentum sind. Das ist eine Wurzel von Gewalt, die durch die ganze Geschichte geht.
Ich empfinde es als etwas Schönes, dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten diese Spätfolgen der neolithischen Revolution Stück für Stück aufgelöst und zurückgefahren worden sind. Wir haben die Sklaverei abgeschafft, zumindest offiziell. Wir haben die Gleichberechtigung der Frau durchgesetzt, zumindest offiziell. Wir haben Rechte für Kinder geschaffen usw.
Aber eine Spätfolge ist immer noch nicht abgelöst, nämlich der Umgang mit den Tieren. Im Gegenteil hat sich deren Unterwerfung im Zuge der industriellen Tierhaltung noch entscheidend ausgeweitet. Ich glaube, dass wir an der Stelle weitermachen, dass wir den Gedanken der Aufklärung auf die Tiere ausweiten müssen, dass nämlich alle Wesen, die Subjekte sind, die im Mittelpunkt ihres eigenen Daseins stehen, auch ein Recht darauf haben, mit Würde behandelt zu werden. Krieg und Tierhaltung haben eine gemeinsame Wurzel. Das wollte ich damit sagen.
DOMRADIO.DE: Wenn wir auf den Jahrestag des russischen Angriffs zurückkommen, haben Sie einen Appell, sozusagen aus tiertheologischer Perspektive?
Ruster: Es ist hier nicht der Ort, konkrete Appelle an die kriegsführenden Nationen, vor allem an Russland, zu richten. Aber aus tiertheologischer Perspektive wird klar, dass der Krieg ein Konstrukt ist. Er ist also keine Naturnotwendigkeit, sondern etwas, das Menschen erfunden haben, das einer menschlichen Idee von Freundschaft und Feindschaft, von gewaltsamer Konfliktlösung entsprungen ist.
Das heißt, Krieg ist eben nicht etwas Natürliches, nichts, was der Natur gleichsam geschuldet ist. Das wiederum bedeutet, dass Menschen auch handlungsfähig werden können, dass sie Freiheit gegenüber diesen Zwängen gewinnen können, Konflikte auf gewaltsame und militärische Art auszutragen. Das könnte das sein, was uns die Tiere hier lehren.
Das Interview führte Hilde Regeniter.