Als Kind war Simone Merkel schwer von einer Frau beeindruckt, die so erzählen konnte, dass alle buchstäblich an ihren Lippen hingen. Dass die evangelische Gemeinde- und Religionspädagogin aus Brandenburg längst selbst Bibelerzählerin geworden ist, hat wesentlich mit dieser frühen Faszination zu tun. "Als Erwachsene habe ich dann begriffen, wie sehr das mündliche Erzählen eine beziehungsträchtige Möglichkeit ist, Erfahrungen auszutauschen", sagt sie heute.
Tatsächlich versteht Merkel das Bibelerzählen als Trialog: "Wir sind wirklich zu dritt im Gespräch: das Publikum, ich und die biblischen Geschichten." Denn wenn sie mündlich in ihren Worten wiedergibt, was bekannten und weniger bekannten Gestalten aus dem Buch der Bücher widerfahren ist, hat sie die Gesichter ihrer Zuhörer direkt vor sich. "Ich kann sehen, wie vor dem inneren Auge der Hörerinnen und Hörer deren eigene Bilder entstehen. Daraus erwächst die gemeinsame Geschichte."
Geschichten vorher ganz durchdringen
Ob es nun die von Adam und Eva ist, von Abraham und Isaak oder von Jesus und der Frau am Brunnen – Simone Merkel kennt und liebt die biblischen Erzählungen alle. Welche Episode ihre liebste ist, variiert je nach Lebenslage und -phase, besonders gerne erzählt sie zum Beispiel die von David und Abigail. "Davon, wie eine mutige Frau den Krieg zwischen zwei störrischen Männern verhindert hat. Das ist für mich eine ganz großartige Geschichte."
Um eine solche Geschichte aus der Bibel vor Publikum gut und lebendig erzählen zu können, sagt Merkel, müsse sie diese vorher ganz durchdrungen, die Figuren und ihre Motivationen wirklich verstanden haben.
Sie erarbeite sich die Geschichte, und das ist ihr wichtig zu betonen, immer in großem Respekt gegenüber dem Bibeltext und suche dabei jedes Mal nach dem "heiligen Moment", dem Moment also, der sie am meisten bewegt und in dem sie am stärksten die Erfahrung, die Menschen mit Gott gemacht haben, spüren könne. "Dann frage ich mich, was von dieser Geschichte und auf welche Art ich es erzählen kann, um genau diesen Moment auch für meine Hörer zum Leuchten zu bringen."
Als nächstes entwirft sie eine Abfolge von Szenen und entscheidet, welche Figur sie wann, wie und wo mit welcher anderen ins Gespräch bringt. Auf diese Weise, so beschreibt es die Pädagogin, wächst die Geschichte, bekommt einen Anfang und ein Ende, wird zu Worten. "Irgendwann ist sie da."
Leerstellen des Originaltextes füllen
Eine erzählbereite Geschichte zu entwerfen heißt für Simone Merkel auch, Leerstellen des Originaltextes zu füllen. Als Beispiel nennt sie die Berufung des Levi, die im Neuen Testament in gerade einmal zwei Versen abgehandelt werde: "Jesus kam in die Stadt, sah Levi am Zoll sitzen und sprach 'Steh auf und folge mir nach!' Levi stand auf und folgte. Fertig."
An dieser Stelle nimmt sich Merkel die Freiheit, den Hörern die Szenerie mit ihren Worten auszumalen: "Wo bin ich da eigentlich? An welchem Stadttor? Welche Geräusche sind zu hören? Welche Menschen sind unterwegs? Wie riecht es da?" Dafür gehe sie exegetisch vor, nutze Hintergrundinformationen über das Leben in Palästina zur Zeit Jesu und sehe zu, dass alles stimmig sei. "Ich erlaube mir nicht etwa, den Levi oder die Situation in einen absurden Zusammenhang zu stellen, ich prüfe, was zu dem passt, das die Evangelisten überliefert haben." Dementsprechend versucht sie, Bilder, Figuren und Szenen zu entfalten. "Indem ich zum Beispiel frage 'Was war Levi eigentlich für ein Typ? War das ein alter Mann oder ein junger Mann? Ein großer oder ein kleiner? War das eigentlich ein trauriger Mensch oder eher ein aktiver?' Die Bibel erzählt nichts davon."
Mit Präsenz und Stimme Menschen erreichen
Weil sie so leidenschaftlich gern Bibelgeschichten erzählt, nutzt die Religionspädagogin jede Gelegenheit: Sie tritt auf Erzählfestivals und anderen Kulturveranstaltungen genauso auf wie in Andachten oder Gottesdiensten, vor Kindern genauso wie vor Erwachsenen. So erweckt Simone Merkel genau wie ihre Kolleginnen und Kollegen eine alte Kulturtechnik immer wieder neu. Immer wieder staunt sie darüber, wie sie in Zeiten von Multi-Media-Präsentationen und Spezialeffekten einfach nur mit Präsenz und Stimme, mit Gestik und Mimik die Menschen erreicht.
Zu erleben, wie das Publikum innerlich mitgeht, ist ihr jedes Mal aufs Neue eine Freude, "zu sehen, wie sie mithören, mitfiebern, mitleiden." Auf diese Weise, so Merkels Erfahrung, entstehe beim Bibelerzählen ein "offener Denkraum", spürten Hörerinnen und Hörer die Erlaubnis, selbst in der Geschichte unterwegs sein und Antworten finden zu können. Antworten auf die großen Fragen des Lebens, um die es in den biblischen Geschichten am Ende immer gehe. "Darum, glaube ich, ist Bibelerzählen für alle geeignet. Gerade auch für diejenigen, die sonst keinen Zugang zu biblischen Geschichten und zum Glauben finden."