DOMRADIO.DE: Wer war diese Angela Merici und was wollte sie?
Sr. Brigitte Werr OSU (Föderation deutschsprachiger Ursulinen): Sie war eine Frau der Renaissance, lebte in Oberitalien, genauer in der Lombardei und hatte den Wunsch und die Kraft, ihren eigenen Weg zu gehen und auch andere dazu zu ermutigen.
DOMRADIO.DE: Sie selbst ist erst einmal Franziskanertertiarin, also Mitglied in einer Laiengemeinschaft der Franziskaner, die den sogenannten "Dritten Orden" bilden, geworden und hat dann in Brescia am Gardasee etwas ganz Neues geschaffen – nämlich eine Laiengemeinschaft für Frauen und Mädchen. Wie kann man sich das vorstellen?
Sr. Brigitte: Ihre Kindheit erlebte sie mit mehreren Geschwistern auf dem kleinen Bauernhof Le Grezze nahe Desenzano am Gardasee. Sie erhielt eine religiöse Erziehung, die ihr Leben prägte. Nach dem Tod der Eltern und ihrer Schwester nahm ein Onkel die Jugendliche in seine Familie in Salò auf. Hier erlebte sie die Welt der wohlhabenden Renaissancebürger, hielt aber an ihrem einfachen Lebensstil fest und entschloss sich, ehelos zu bleiben. Der Onkel gab ihrem Wunsch nach.
Unterstützung bekam sie von Franziskanern, die sie in den Dritten Orden – die heutige Franziskanische Gemeinschaft – aufnahmen. Von da an trug sie das graue Kleid und das Kopftuch der Tertiaren, was ihr auch einen gewissen Schutz bot. Mit etwa zwanzig Jahren zog sie allein auf den elterlichen Hof zurück, bewirtschaftete ihn und – wie sie selbst sagte – betete viel. In dieser Zeit hatte sie wohl auch eine innere Eingebung, die ihr sagte, sie werde eine Gemeinschaft junger Frauen gründen. Aber sie lebte erst einmal ganz normal weiter.
Mit etwa vierzig Jahren riefen die Franziskaner sie nach Brescia, das damals eine vom Krieg verwüstete Stadt war. Sie sollte einer Frau beistehen, die ebenfalls Tertiarin war und gerade ihre Familie verloren hatte. In der Stadt lernte sie erstmals menschliche Not kennen. Sie wurde eine gefragte Beraterin und – mit heutigem Begriff – eine Seelsorgerin für jede und jeden, der oder die Rat brauchte. Darunter waren auch junge Frauen, die wie sie ehelos leben wollten, aber mit diesem Wunsch meist auf Widerstand stießen.
Daraus wurde mit der Zeit eine feste Gruppe. Es waren zumeist einfache junge Frauen. Am 27. November 1535 haben sie sich offiziell zur "Compagnia di Sant’Orsola" zusammenschlossen. Das ist unser Gründungstag. Sie gaben sich sogar eine Regel, die Angela Merici mit den Frauen zusammen erarbeitet hatte.
DOMRADIO.DE: Was für eine Bedeutung hatte das damals am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert?
Sr. Brigitte: Selbstbestimmung gab es für Frauen zu Angelas Zeit nicht. Alle Lebensentscheidungen trafen Männer für sie: Vater, Ehemann oder Vormund. In der neuen Gemeinschaft dagegen erfuhren die Frauen oft zum ersten Mal in ihrem Leben Wertschätzung und Solidarität: Frauen für Frauen. Männer, auch Priester, hatten kein Mitspracherecht. Sie wurden lediglich für bestimmte Rechtsgeschäfte hinzugezogen. Das war ein großer emanzipatorischer Schritt.
DOMRADIO.DE: Warum hat Angela Merici ihre Gemeinschaft ausgerechnet nach der Heiligen Ursula benannt?
Sr. Brigitte: Wenn wir das wüssten. Wir können nur vermuten, dass Angela eine besondere Verehrung für diese Heilige hatte – vielleicht aus Kindertagen, als der Vater aus der Legenda Aurea (eine seit dem Mittelalter sehr populäre Sammlung von Heiligenviten, Anm. der Redaktion) vorlas. Die Ursula der Legende war eine mutige Frau, eine Führungspersönlichkeit, die selbstbestimmt ihren Weg ging und auch andere dazu ermutigte. Wenn das kein Vorbild ist.
DOMRADIO.DE: Mädchen und Frauen Bildung zu vermitteln, sie zum eigenständigen Denken anzuregen, war damals hochmodern. Und bestimmt dem ein oder anderen ein Dorn im Auge?
Sr. Brigitte: Die Bildung im eigentlichen Sinn kam erst später dazu. Angela hat den Frauen ihrer Gemeinschaft erst einmal zu einem fundierten religiösen Verständnis und vor allem zu Selbstständigkeit verholfen. Zu ihren Lebzeiten scheint das kein Problem gewesen zu sein. Ihr nahm man das ab. Aber der nachfolgenden Leiterin entzog man die öffentliche Anerkennung. Hauptärgernis war wohl, dass kein Priester die Leitung hatte. Das wurde dann auch bald von kirchlicher Seite geändert.
DOMRADIO.DE: Die Laiengemeinschaft hat sich dann weiter zur heutigen Ordensgemeinschaft entwickelt. Warum eigentlich?
Sr. Brigitte: Das hat mehrere Gründe. Zum einen wuchs die Gemeinschaft und brauchte damit festere Strukturen. Es bildeten sich Lebensgemeinschaften, erste Konvente. Zum anderen ging es immer um die öffentliche Anerkennung. In Frankreich war der Wunsch sehr groß, "richtige" Ordensfrauen mit Gelübden und strenger Klausur zu sein.
DOMRADIO.DE: Wie hat sich der Ursulinenorden nach dem 16. Jahrhundert weiterentwickelt?
Sr. Brigitte: Ein entscheidender Schritt war, dass Karl Borromäus, der Erzbischof von Mailand, die Frauen der Compagnia di Sant‘Orsola zum Katechismusunterricht heranzog. Darin liegt die Wurzel des Schulordens, denn die Ursulinen, wie sie inzwischen genannt wurden, unterrichteten nicht nur, was im Katechismus stand, sondern auch Lesen, Schreiben, Rechnen und Handarbeit. Also alles, was einem jungen Mädchen zu damaliger Zeit nützlich war.
In Italien entstanden daraus unter anderem Kollegien mit Unterricht auf hohem Niveau, zum Beispiel in Bezug auf die Musikerziehung. Es gibt Ursulinenkomponistinnen, deren Werke heute noch aufgeführt werden. In Frankreich entstanden die Klosterschulen.
Nach Deutschland kamen die Ursulinen 1639. In Köln entstand das erste Kloster. Im selben Jahr ging übrigens Maria von der Menschwerdung als erste Missionarin der Kirchengeschichte nach Übersee. Wo immer Ursulinen hinkamen, eröffneten sie neben der Klosterschule mit Internat auch eine kostenlose Volksschule, meist für Mädchen und Jungen. Vielfach wurden sie von den Landesherren gerufen, später auch von den Bürgern der Städte.
Heute geht es uns wie allen alten Orden: Es kommen keine Schwestern mehr nach. So versuchen wir, das Erbe weiterzugeben.
DOMRADIO.DE: Ursulinenschulen gibt es bis heute. Was macht ihren Geist aus?
Sr. Brigitte: Erziehung im Geiste Angela Mericis ist immer personal. Es geht darum, den einzelnen Mitmenschen im Blick zu haben. Das hat sie den Leiterinnen ihrer Gemeinschaft immer wieder gesagt. So wurde es auch in der Regel festgeschrieben. Das war allen Generationen von Ursulinenlehrerinnen wichtig. Ich bringe diese Haltung gern mit drei Begriffen auf den Punkt: Wertschätzung, Ermutigung und Hören auf den Heiligen Geist.
Leider sind heute nur noch sehr wenige Schwestern im Schuldienst. Die Trägerschaft der Einrichtungen liegt fast überall schon länger in anderen Händen. Da ist es die Frage, wie man den Geist der Gründerin in einer "Ursulinenschule ohne Ursulinen" lebendig erhalten kann. Wir versuchen die Schulen durch Partnerschaften, durch Vorträge und persönlichen Austausch zu vernetzen. Dafür braucht es Begeisterte, die es an vielen Schulen tatsächlich gibt. Die Faszination ist immer wieder groß, aber der Alltag überlagert sie allzu oft.
DOMRADIO.DE: Wann genau Angela Merici geboren wurde, ist nicht ganz klar. In einigen Heiligenlexika ist der 21.03.1474 genannt. Demnach würde sie jetzt 550 Jahre alt. Inwieweit taugt eine Frau von vor 550 Jahren zum Modell für Frauen und Mädchen heute?
Sr. Brigitte: Das Geburtsdatum kennen wir nicht, nur das Jahr 1474, aber auch das mit Fragezeichen. Also ist sie vor 550 Jahren geboren.
Tatsächlich fasziniert Angela Merici noch immer. Man muss nicht reich und berühmt sein, um in der Welt Gutes zu bewirken. Selbstständigkeit einerseits und eine realistische Wahrnehmung der Bedürfnisse anderer andererseits sind heute noch genauso wichtig wie damals.
DOMRADIO.DE: Was gefällt Ihnen persönlich am besten an Ihrer Ordensgründerin?
Sr. Birgitte: Es ist genau das: Eine Frau, die ganz bei sich selbst war und in aller Bescheidenheit unbeirrt ihren Weg ging, die sogar dem Papst eine Absage erteilte, als er sie nach Rom holen wollte. Sie konnte Menschen ermutigen, ihren eigenen Weg zu finden und ihren Lebenstraum zu verwirklichen. Gibt es ein besseres Vorbild?
Das Interview führte Hilde Regeniter.