Nicht breit genug soll es gewesen sein, das Jaffa-Tor in der Altstadt von Jerusalem. Als der deutsche Kaiser Wilhelm II. 1898 ins Heilige Land kam und auch Jerusalem besuchen wollte, soll die Durchfahrt durch das Tor so schmal gewesen sein, dass der Kaiser mit seiner Entourage niemals hätte einziehen können. Und so hat man dieses Tor einfach verbreitert, um Wilhelm II. den Einzug in die Heilige Stadt zu ermöglichen.
So erzählt es jedenfalls eine Geschichte, die allerdings nicht ganz wahr ist: Denn die Baumaßnahme war bereits vor dem Besuch des Kaisers geplant. Das Tor war auch für den Durchgangsverkehr zu schmal geworden.
Durch das Jaffa-Tor ist Jesus nicht eingezogen, als er nach Jerusalem kam. Die heutige Stadtmauer wurde erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts von Sultan Süleyman dem Prächtigen errichtet. Möglicherweise ist Jesus durch das Löwen-Tor eingezogen, das dem Ölberg gegenüber liegt. Noch heute ist es ein beeindruckendes Bild, wenn sich die große Palmprozession von Betfage am Ölberg durch das Kedron-Tal hinein in die Heilige Stadt bewegt.
Palmsonntag als Eingangstor zur Heiligen Woche
Auch der Palmsonntag selbst kann als ein Tor verstanden werden: Er ist das Eingangstor zur Heiligen Woche, zur Karwoche. Mit seiner Feier beginnt die größte und heiligste Woche des Kirchenjahres. In ihr liegen die wichtigen Feiertage, die für den christlichen Glauben eine enorme Bedeutung haben. Deswegen ist sie nicht nur eine Woche des Klagens und des Trauerns, sondern auch eine Woche der Freude. Sie nimmt uns Jahr für Jahr wieder in das Geheimnis des Glaubens hinein. Christinnen und Christen feiern den Durchgang Christi durch den Tod zum Leben, durch das Dunkel ins Licht; den Durchzug des Volkes Israel durch das Rote Meer, durch die Gefangenschaft in die Freiheit.
Der Durchgang Christi durch Leiden und Tod zur Herrlichkeit der Auferstehung kommt schon am Palmsonntag zur Sprache. In der zweiten Lesung aus dem Philipperbrief ist dort zu hören: "Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen" (Phil 2,8f). Die Rettungstat Gottes, sein heilvolles Eingreifen in das Schicksal Jesu wird in dieser Heiligen Woche gefeiert.
Wir erleben hautnah, was sich damals ereignet hat
Aber gläubige Menschen gehen in diese Karwoche nicht als Zuschauer hinein, schauen nicht nostalgisch zurück, was sich vor vielen hunderten Jahren ereignet hat. Sondern die Liturgie der Karwoche nimmt uns mithinein in das Geheimnis von Leiden, Tod und Auferstehung des Herrn. Wir feiern diese Heilsgeheimnisse so, als wären wir dabei, als würden sie sich heute ereignen. "Das ist heute", heißt es im Hochgebet am Gründonnerstag. Und in der Osternacht ist im Lob auf die Osterkerze zu hören: "Dies ist die selige Nacht, in der Christus die Ketten des Todes zerbrach". Es ist heute - und wir sind dabei. Wir erinnern uns nicht nur, sondern wir erleben hautnah, was sich damals ereignet hat.
Wenn Menschen den Palmsonntag nicht als bloßes Publikum, sondern als Teilnehmende begehen, dann heißt das: Wir dürfen in unserem Leben erfahren, was dieser Durchzug Christi vom Tod zum Leben wirklich bedeutet. Wir erkennen, dass das Schicksal Jesu auch unser Leben betrifft - und es verändern will. In seinem Sterben und Auferstehen hat er unserem Menschsein einen neuen Sinn gegeben: Von nun an dürfen wir als veränderte Menschen leben, weil wir wissen, dass der Tod nicht das Ende des Lebens ist.
In der Liturgie des Palmsonntags kommt deshalb das ganze menschliche Leben zur Sprache: die vielen Höhepunkte und Hosianna-Rufe, das bittere Leiden und Sterben und schließlich die Auferstehung. Diese unterschiedlichen Dimensionen verbinden sich in der liturgischen Feier des Palmsonntags. Im Wissen darum, dass das, was wir feiern, unser Leben verändert, dürfen wir in diese Heilige Woche eintreten. Der Palmsonntag zeigt uns, wie die Liturgie der kommenden Tage unser Leben widerspiegelt und ihm einen neuen Sinn verleiht.