Die Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat mit ihrem am Donnerstag bekanntgewordenen Jahresbericht 2023 für Aufsehen gesorgt.
Denn darin spielt auch die Amtszeit des heute 91-jährigen Kardinals Walter Kasper eine Rolle, der von 1989 bis 1999 Bischof der württembergischen Diözese war. "Bis in die 1990er Jahre" seien im Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Kleriker "Dilettantismus, Überforderung und Inkompetenz, Verschleierung oder Vertuschung" vorherrschend gewesen, heißt es im 70-seitigen Bericht der Kommission.
Schuld und Verantwortung
Der seit dem Ausscheiden von Bischof Gebhard Fürst im Dezember 2023 amtierende Diözesanadministrator Clemens Stroppel sagte am Freitag auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), die Diözesanleitung nehme diesen Jahresbericht 2023 "sehr ernst". Zur Frage, ob Kardinal Kasper sich nun erklären müsse und Verantwortung übernehmen oder Schuld bekennen müsse, sagte Stroppel, er sehe in "Zwischenerkenntnissen" des Kommissionsberichts "keine Basis" für solche Folgerungen.
Stroppel bezog sich bei seiner Einschätzung unter anderem auf eine Passage aus dem Bericht, in der es heißt: "'Verstecken' war offenbar ein gängiger Begriff für den Umgang mit kirchlichen Sexualstraftätern." So findet sich laut Kommission bei einem Fall aus der Bischofszeit von Walter Kasper in einer Aktennotiz des damaligen Personalreferenten der Satz: "Er müsste dann halt noch einen Monat im (Kloster) verlängern. Ich weiß kein anderes 'Versteck'".
Diözesanadministrator verweist auf weitere Auswertung
Zudem bezog sich Stroppel in seiner Beurteilung darauf, dass es im Kommissionsbericht beim Punkt "Auswertung des Geheimarchivs im Bischofshaus" heißt: "Der Aktenbestand im Falle des sexuellen Missbrauchs betrifft schwerpunktmäßig die Zeit der Bischöfe Sproll (4 Fälle), Leiprecht (10 Fälle), Moser (2 Fälle) und Kasper (3 Fälle), wobei zeitliche Überschneidungen während der Amtszeiten der Bischöfe in einzelnen Fällen gegeben sind." Vor Kasper amtierten als Bischöfe Georg Moser (1975 bis 1988) sowie Carl Joseph Leiprecht (1949 bis 1974) und Johannes Baptista Sproll (1927 bis 1949).
Stroppel erklärte, dass der Diözesanleitung bisher keine der im Bericht zitierten Akten oder Zeitzeugenberichte im Original bekannt seien. "Sodass der Zwischenbericht noch einer eingehenden Analyse und Auswertung bedarf." Allerdings entsprächen "die Ergebnisse hinsichtlich des Umgangs mit Tätern und Betroffenen/Opfern sowie mit Verschriftlichungen grundsätzlich den aus anderen Diözesen bekannten Ergebnissen für die entsprechenden Zeiträume", so Stroppel. Er leitet bis zur Ernennung eines neuen Bischofs die Diözese.
Abschlussbericht voraussichtlich in zwei Jahren
Voraussichtlich erst in zwei Jahren "nach Ende der Aufarbeitung" will die Kommission einen Abschlussbericht vorlegen, wie Anne Mülhöfer, Geschäftsführerin der Kommission, am Freitag auf KNA-Anfrage sagte.
Aktuell sieht das Gremium eine seiner vorrangigen Aufgaben in der "Identifikation von Strukturen, die sexuellen Missbrauch ermöglicht oder erleichtert oder dessen Aufdeckung erschwert haben".
"Verschleierung war Dauerzustand"
Bei der Aufarbeitung würden Akten durchgesehen und Zeitzeugen befragt. So habe es bereits Gespräche mit früheren Personalverantwortlichen inklusive Kasper sowie dem früheren Diözesanadministrator und Weihbischof Johannes Kreidler gegeben. "Die Mehrzahl der Zeitzeugen wurde danach gefragt, ob sie Kenntnis von Vertuschung, insbesondere auch durch Aktenvernichtung haben", heißt es im Bericht.
Von "gezielter Vertuschung sexualisierter Gewalt durch Aktenvernichtung" berichte zwar keiner der Zeitzeugen. Allerdings habe gerade im Umgang mit dem Themengebiet sexualisierter Gewalt ein persönliches Prinzip gegolten: "Vieles wurde mündlich beziehungsweise telefonisch besprochen und verhandelt; Gesprächsinhalte wurden nicht aktenkundig." Fazit der Kommission: "Verschleierung war deshalb ein Dauerzustand, bei dem die aktive Vertuschung nicht nötig wurde."
Zeitzeugengespräche
Im Kontrast dazu sei "in der neueren Zeit eine deutliche Professionalisierung, ernsthafte Auseinandersetzung und Konfrontation mit dem Thema sexualisierte Gewalt festzustellen" - und zwar auf "sämtlichen Ebenen", heißt es im Bericht.
Zur Frage, ob Kardinal Kasper sich nun erklären müsse, verwies Geschäftsführerin Mülhöfer auf den Abschlussbericht der Kommission, "der nach Ende der Aufarbeitung in etwa zwei Jahren vorgelegt werden wird". Sie fügte hinzu: "Dann werden auch sämtliche Beschuldigtenakten ausgewertet sein."
Wendepunkt und neue Kultur
Der Jahresbericht 2023 stellt dem Bistum ein schlechtes Zeugnis auch im früheren Umgang mit Missbrauchsbetroffenen aus. "Ein Verhalten der Kirche gegenüber Betroffenen ist in früheren Jahren fast nicht vorhanden", heißt es in dem Bericht. Erst die Einrichtung der Kommission "Sexueller Missbrauch" (KsM) durch den damaligen Bischof Gebhard Fürst im Jahr 2002 habe dazu geführt, dass Betroffenen "größere Empathie, Wertschätzung und Anerkennung" entgegengebracht worden seien.
Hat damit nachhaltig eine neue Kultur im Umgang mit Missbrauch im Bistum Einzug gehalten? "Ja", sagt Mülhöfer. "Die Einrichtung der KsM war zur damaligen Zeit und bis in unsere Zeit hinein einzigartig in den deutschen Diözesen." Der künftige Abschlussbericht werde aber "auch Handlungsempfehlungen an den Diözesanbischof enthalten".