Am Anfang war das Chaos: Urwald, Bestien, Schlangen. Die Ungeheuer fliehen und ertrinken im Bodensee, als der heilige Pirmin im Jahr 724 auf die Insel kommt und den Grundstein des Klosters Reichenau legt. So berichtet es die Legende, die jetzt Ausgangspunkt einer großen kulturhistorischen Ausstellung in Konstanz ist.
Die Schau im Archäologischen Landesmuseum öffnet an diesem Samstag und zeigt mit rund 250 Exponaten, in Medienstationen, 3-D-Rekonstruktionen der Klosterkirchen und in aufwendiger Gestaltung, wie sich die Insel im Mittelalter zu einem geistigen und politischen Zentrum von europäischem Rang entwickelte. "Welterbe des Mittelalters - 1.300 Jahre Klosterinsel Reichenau" läuft bis zum 20. Oktober.
Wie das Internet des Mittelalters
Dass die Mönche keineswegs einsam hinter Klostermauern lebten, beweist das Reichenauer Verbrüderungsbuch. "Darin sind 38.000 Namen von Mönchen, Herrschern, Pilgern und Freunden des Klosters aufgeführt. So etwas wie das Internet des Mittelalters und ein Dokument der europäischen Vernetzung", sagt Ausstellungsmacher Olaf Siart.
Der Leiter des Karlsruher Generallandesarchivs, Wolfgang Zimmermann, betont, den Mönchen sei es gelungen, Teil eines großen gemeinsamen Kommunikations- und Wissensraums zu sein. "Mit Kontakten zu Islam, nach Nordafrika und ganz Europa. Wenn wir heute erleben, dass Kriege und Krisen Kontakte und internationalen Austausch brüchig werden lassen, können wir von der mittelalterlichen Welt nur lernen."
Gefühl der damaligen Zeit
Die Ausstellung führt chronologisch von der legendären Gründung über Aufstieg und Blütezeit bis zum Verlust der Selbstständigkeit im Jahr 1540. Die Jahrhunderte überdauernde Autonomie endete. In einem schleichenden Prozess verlor das Kloster nach und nach seinen Einfluss und seinen ehemals sehr großen Grundbesitz.
Präsentiert werden in Konstanz auch neue Forschungsergebnisse zur Architektur und zur Schreibkunst des Mittelalters. Die Ausstellungsdesigner haben einen Altarraum nachgebaut, um die prachtvollen Goldkelche, Monstranzen und Altarteppiche in Szene zu setzen. Wer im Chorgestühl Platz nimmt, hört liturgische Gesänge des zehnten Jahrhunderts: für die Ausstellung eingesungen von Profimusikern im Reichenauer Münster.
Atemberaubende Prachthandschriften
Den Höhe- und Mittelpunkt der Schau mit rund 900 Quadratmetern Ausstellungsfläche bildet das Skriptorium: der Ort, an dem die Mönche religiöse Texte verfassten und Bibelhandschriften gestalteten. Farbigkeit und Klarheit der bis zu 1.200 Jahre alten Pergamentzeichnungen sind atemberaubend. "Noch nie zuvor ist es gelungen, wieder so viele Prachthandschriften der Reichenau an ihren Entstehungsort zurückzubringen", sagt Kurator Siart.
Die fünf herausragenden Pergament-Bände sind Unesco-Weltdokumentenerbe. Dazu gehören der Codex Egberti (um 980) aus Trier und das mit einem Gold-Elfenbein-Einband verzierte Poussay-Evangelistar (10. Jahrhundert) aus der Pariser Bibliotheque Nationale. Und das Liuthar-Evangeliar (um das Jahr 1.000) aus dem Aachener Domschatz. Eine Zeichnung verrät hier, wie selbstbewusst die Reichenauer Künstler auftraten: Der Mönch Liuthar stellt sich selbst dar, wie er Kaiser Otto III. das von ihm auf der Reichenau bestellte Evangelienbuch übergibt.
Forschung für die Wissenschaft
Berühmt wurde die Reichenau auch als Ort der Wissenschaft. Walahfrid Strabo (um 808 bis 849) forschte zur Gartenbaukunst - sein "Hortulus"-Buch ist Vorbild für die zum Jubiläum neu angelegten Klostergärten auf der Insel.
Hermann der Lahme (1013-54) gilt als Stephen Hawking des Mittelalters. Das Universalgenie forschte trotz körperlicher Behinderung zu Astronomie, Mathematik und Musik. Die Ausstellung präsentiert ein Astrolabium, ein mittelalterliches Instrument, um den Lauf der Gestirne zu beobachten.
Kostenfreie App
Als Beispiele für die sakrale Architektur des frühen und hohen Mittelalters zeigt die Schau Ornamente und Altarverzierungen aus Oberitalien. In der Nähe von wichtigen Alpenübergängen gelegen, pflegte die Reichenau enge Kontakte dorthin. Auch bei der Gestaltung der Kirchen der Reichenau arbeiteten italienische Steinmetze mit. Einblicke ins Alltagsleben gewährt ein bei archäologischen Grabungen gefundener Spielwürfel.
Die Verbindung zwischen Konstanzer Ausstellung und den Denkmälern, Kirchen und Geschichten auf der Reichenau ermöglicht eine eigene, kostenfreie Ausstellungs-App: inklusive Push-Nachrichten für die Gebetszeiten der heutigen Benediktinergemeinschaft auf der Reichenau.