Dies ist ein Auszug aus der aktuellen Folge des Podcasts "Himmelklar". Das komplette Gespräch zum Anhören gibt es hier:
Himmelklar: Ich habe mich gefragt: Wie spreche ich Sie richtig an? Sie sitzen mir heute in Zivil gegenüber: Sage ich Herr Dr. Rieks oder Generalleutnant a.D.?
Dr. Ansgar Rieks (Generalleutnant a.D., bis 2023 Stellvertreter des Inspekteurs der Luftwaffe; als Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken in den Synodalen Ausschuss gewählt worden): Formal heißt es "Herr General", aber wenn man in Pension ist, ist der Name völlig ausreichend.
Himmelklar: Das heißt, mit vollem Lametta dürfen Sie auch gar nicht mehr auflaufen?
Rieks: Es gibt einzelne Events, da kann man das noch tun, auch wenn man in Pension ist. Es ist aber allgemein üblich, wenn man den Dienst verlassen hat und dann in den sogenannten Ruhestand gegangen ist, dass man dann in Zivil kommt.
Das verändert ein wenig die Identität, weil man in Uniform ja erst mal der Soldat ist und dann die Person. Jetzt ist man die Person und dann dahinter der Soldat a.D. Daran gewöhnt man sich aber schnell und so ist es nun mal.
Himmelklar: Wir treffen uns in sehr bewegten Zeiten: In Bezug auf militärische Bedrohung in direkter Nähe ist es vielleicht sogar eine Zeitenwende. Und die ist eingeläutet worden durch den Krieg in der Ukraine, dann kam der Krieg in Nahost... Wie erleben Sie das gerade?
Rieks: Ich bin zunächst erst einmal froh, dass der Bundeskanzler überhaupt das Wort und damit natürlich auch die Bedeutung dieser Zeitenwende zum Ausdruck gebracht hat in seiner Rede drei Tage nach dem Angriff auf die Ukraine am 27. Februar 2022.
Wir waren uns ja auch gar nicht einig darüber, ob wir in einer Zeitenwende waren oder wie diese Zeitenwende sich ausprägt vor dem Hintergrund, dass wir so etwas bis dahin nicht erlebt haben. Ich glaube, sicherheitspolitisch hat es aber durchaus eine Zeitenwende gegeben über diesen Angriffskrieg.
Man kann darüber diskutieren, ob es schon 2014 war, mit dem Angriff und der Übernahme der Krim und Teilen des Donbass. Sicherheitspolitisch war das sicherlich etwas völlig Neues, wieder über Angriffskriege völkerrechtswidrig Land oder Bedeutung oder Einfluss zu gewinnen und etwas zu übernehmen – was Russland getan hat.
Ich glaube, Zeitenwenden gibt es auch beispielsweise gerade jetzt, insbesondere technologisch. Was wir gerade an Technologieveränderungen erleben und was wir dadurch auch an Auswirkungen haben auf die Gesellschaft, aber natürlich auch auf die Kriegführung und die Operationsführung, aber durchaus auch in vielen persönlichen Bereichen, das ist schon enorm. Deswegen, glaube ich, ist das Wort "Zeitenwende" zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Und obwohl es nur sicherheitspolitisch ausgedrückt war, hat es eigentlich eine Zeitenwende in ganz vielen anderen Bereichen gleich mitgenommen.
Himmelklar: Sie sind 45 Jahre lang Soldat gewesen, 1978 in die Bundeswehr eingetreten. Gab es so eine Situation wie die aktuelle schon mal? Ich persönlich kenne die Ausläufer des Kalten Krieges Anfang der 1990er-Jahre in meinem Heimatdorf. Ich erinnere mich, dass Panzer in den Straßen standen und dass Starfighter tief flogen. Mein Vater beschwerte sich damals und hat irgendwo angerufen und gesagt, die Kinder im Sandkasten erschrecken sich, dass Manöver stattfanden. Kommt das jetzt wieder?
Rieks: Wir haben ähnliche Erfahrungen. Ich bin in Ostwestfalen groß geworden und genau das, was Sie beschrieben haben, war dort natürlich auch. Wir haben bis zur Wende und bis zum Ende des Kalten Krieges 1990 natürlich auch in einer unmittelbaren Bedrohungssituation dem Warschauer Pakt gegenüber gelebt. Es war wichtig, einfach gut aufgestellt zu sein, um aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Zeit danach natürlich dann auch verteidigungsfähig zu sein. Das waren wir da auch.
Wenn Sie mich nach Zeitenwenden fragen und wo ich welche erlebt habe, ist dieses 1989/90 natürlich eine Zeitenwende gewesen, mit dem Fall der Mauer und mit dem Ende des Kalten Krieges, wo wir wirklich gedacht haben: Das hast du jetzt in deinem Leben erlebt, das ist die Zeitenwende deiner Generation. Das haben wir, glaube ich, auch alle so gedacht. Es war ja auch eine Zeitenwende. Unabhängig davon, dass sich das immer hinterher herausstellt, ob es eine war oder nicht.
Als wir dann in den Kosovo-Konflikt oder Jugoslawien-Konflikt, also auch in einen Krieg vor der Tür Ende der 1990er-Jahre eingetreten sind und zum ersten Mal mit Luftstreitkräften bombardiert haben, beispielsweise, da haben wir in der Luftwaffe gesagt, das ist jetzt die Zeitenwende, die hinter der Zeitenwende kommt.
Heute, würde ich sagen, beurteilt man das als nicht mehr so gravierend. Damals haben wir das aber so gemacht. Wenn Sie dann noch mal 9/11 nehmen und viele Dinge, die so gekommen sind – ich glaube, das Gefühl einer Zeitenwende ist häufiger da. Und Geschichte zeigt dann im Endeffekt immer, ob es denn wirklich eine war oder nicht. Und ich bleibe dabei, 1990 war definitiv eine und ich glaube, auch 2022 ist eben so eine gewesen.
Himmelklar: War es also falsch, die Bundeswehr und den Zivilschutz so zurückzufahren in den letzten Jahrzehnten?
Rieks: Wenn Sie jetzt jemanden wie mich fragen, dann ist die Antwort natürlich immer: Ja, es war falsch. Natürlich gibt es gewisse Adaptionen. Wenn unmittelbare Bedrohungen nicht mehr so da sind wie früher, kann man sich entsprechend auch daraufhin adaptieren. Deswegen habe ich es schon verstanden.
Es ist aber natürlich immer so ähnlich wie bei der Feuerwehr. Wenn es nicht mehr brennt irgendwo, schaffen sie die Feuerwehr ab und wissen: Wenn es morgen tatsächlich brennt, sind sie nicht mehr in der Lage zu löschen. Insofern würde ich sagen: Ja, es war sicherlich in der Form falsch, aber es war auch in der Intensität falsch.
Himmelklar: Sie haben mal einen sehr spannenden Artikel zum Thema Resilienz veröffentlicht. Da haben Sie einen Leitspruch von damals aufgegriffen – und zwar den Leitspruch: "Es geht darum, kämpfen zu können, um nicht kämpfen zu müssen." Ist das heute immer noch ein Leitspruch, der gilt?
Rieks: Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, hat irgendwann mal gesagt: Das reicht jetzt nicht mehr, wir müssen jetzt kriegstüchtig werden. Der Minister hat es auch verkündet. Ich finde, das Thema "Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen", ist auch ein Stück weit Abschreckungsphilosophie der Vergangenheit, die aber heute noch gilt. Dass es darüber hinaus neben dem Können auch immer ein faktisches Können ist, was die Gerätschaften betrifft – also Panzer, Flugzeuge, Schiffe – und was die Kommunikation betrifft, also die Ausstattung insgesamt, neben diesem Ausbildungsaspekt, ist, glaube ich, auch ein wichtiger Punkt. Vielleicht ist es das, was der Generalinspekteur zum Ausdruck bringen will, ohne dass ich ihn jetzt interpretieren möchte. Dass er sagt, das eine, das haben wir früher gesagt, das reicht aber nicht mehr aus, wir müssen jetzt kriegstüchtig sein.
Ich habe vor kurzem einen Artikel des Theologen Matthias Gillner aus Hamburg gelesen, der gesagt hat: "Kriegstüchtig" ist nicht das richtige Wort, wir wollen eigentlich keinen Krieg. Ja, man könnte es so sagen. Es könnte auch verteidigungstüchtig heißen oder so, aber vielleicht ist das auch eine Mentalitätsfrage, mit der wir jetzt wieder in die Gesellschaft gehen, dass wir uns tatsächlich wieder auf Krieg vorbereiten müssen. Auch wenn wir natürlich keinen Krieg in dem Sinne führen wollen und uns auch nicht auf Kriegsführung – insbesondere nicht offensiv – einrichten, sondern eigentlich verteidigungsfähig sein wollen. Das natürlich mit uns selbst, aber auch im Bündnis.
Himmelklar: Das fühlt sich tatsächlich an wie eine deutsche Haltung, die dahinter steht. Ist das vielleicht auch eine christliche Haltung? Ganz plakativ gesagt: Als Christ, Sie sind Katholik, ist man doch dem Frieden verpflichtet, oder nicht?
Rieks: Ja, natürlich. Es gab ja auch schon mal in der Diskussion, die über all die Jahre geführt worden ist, die Linie, dass die Bundeswehr die größte Friedensbewegung ist, die wir haben. Das sind alles so Diskussionen gewesen, die wir besonders in dieser Vergangenheit vor 1990 geführt haben. Wir waren bis 1990 auch in einer sehr intensiven friedensethischen Diskussion. Sie können sich vielleicht noch (die Friedensdemonstration im) Bonner Hofgarten und alle diese Nachrüstungsdebatten vorstellen.
Ich habe es am persönlichen Leib erlebt. Ich bin als junger Student und Leutnant von der Bundeswehr-Universität in Hamburg, wo ich studiert habe, mal auf dem Evangelischen Kirchentag 1980 um die Alster gewesen und habe meine Uniform dazu angezogen. Ich habe sie anschließend in den Müll geschmissen, weil sie voller Ketchup, Bier und solchen Dingen war, weil ich natürlich in einer solchen Gesellschaft weder willkommen noch akzeptiert war. Wenn man aus einer solchen Zeit kommt und dennoch Friedensethik für gut empfindet, ist das schon meiner Ansicht nach eine Menge Reflexion.
Ich stehe bis heute dafür ein, dass wir Friedensethik nicht als Ergonomie bezeichnen, so nach dem Motto – "ja, wenn ich sie habe, ist es etwas schöner, aber ich kann es eigentlich auch ohne", sondern dass sie auch essenziell ist, insbesondere in den Ausprägungen, mit denen man dann Friedensethik tatsächlich konkret angeht. Ich finde aber eines ganz schlimm und das ist so eine Tendenz, die wir in den vergangenen Jahren gehabt haben und wo ich wirklich viel für arbeite, dass wir da herauskommen. Das ist, dass wir Friedensethik bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag diskutieren und niemals zu Ergebnissen kommen. Die können ja heißen "Ja" oder "Ja, mit Einschränkungen" oder "Nein". Aber am Ende brauchen Soldaten ein Ergebnis – und das muss her.
Das Interview führte Verena Tröster.