Vor ein paar Wochen sah ich in der Tagesschau Bilder von meiner Universität. Es sah nach Gewalt aus, ein kurzer Clip, eine aggressive Begegnung – das war es, was man in den deutschen Abendnachrichten von Yale erfuhr. Besorgt wurde ich gefragt, ob ich mich denn noch sicher auf dem Campus bewegen konnte. Ja, ich konnte. Und kann.
Die traurige Wahrheit ist aber auch: Es ist auch hier zu antisemitischen Übergriffen gekommen. Unsere Universität hat sie sofort und deutlich verurteilt, ebenso wie sie sich entschieden gegen alle Islamophobie positioniert hat. Hass darf keinen Platz auf dem Campus haben – das ist für die deutlich überwiegende Mehrheit, Studierende wir Lehrende, klar. Was Platz hat, ist "freedom of speech", der Ausdruck politischer Auffassungen, so kontrovers sie sein mögen.
Und natürlich ist die Sicht auf den Nahen Osten derzeit sehr divers, auch hierzulande. Für Medien ist Gewalt interessanter als der friedliche Protest. Bislang aber sind die Proteste, jedenfalls hier, an meiner eigenen Universität – die anderen bekomme ich auch nur durch Medien mit –, ganz überwiegend friedlich, die Studierenden, die sich gegen die gegenwärtige Kriegsführung Israels in Gaza wenden, tun dies in der Regel ruhig und bedacht.
Vor wenigen Wochen haben sie eine zentrale Kreuzung nahe der Yale University besetzt – das ist eine bewusste Störung, ärgerlich für viele, gerade in der autoabhängigen nordamerikanischen Gesellschaft. Dennoch war wenig Aggression zu spüren, weder bei den Menschen rundherum, noch bei den Studierenden, die auf der Straße saßen und eher ein Gefühl von Woodstock vermittelten als von Aufstand und Revolte.
Am Rande dieser Blockade, auf den Treppenstufen der Universität, stand ein Gedenkplakat mit dem Bild des Palästinensers Walid Daqqa, der vor wenigen Wochen in einem israelischen Gefängnis an Krebs gestorben ist. Daran hatte jemand einen DIN A4-großen Zettel geheftet, auf dem klargestellt wurde, unter welcher Terroranklage Walid Daqqa von israelischen Gerichten verurteilt worden ist.
Jedenfalls als ich vorbeiging, am späten Vormittag, hatte niemand diesen Zettel entfernt. Man ist in der Ivy League: Selbst noch hier, mitten in der Demonstration, fand ein fast akademischer Diskurs über die Deutung des Geschehens statt. Dass ich dort vorbeikam, lag übrigens daran, dass der Unibetrieb weiterlief. Ich hatte gerade mit meinen Mittelalterstudierenden die Handschriftenabteilung unserer Bibliothek besucht. Und am nächsten Tag saßen wir in einem Seminar zusammen, Christ:innen, Muslim:innen und Jüd:innen, und diskutierten mittelalterliche Theologie.
Repressive Seiten der europäischen Kultur
Es wäre schön, wenn von diesem Alltag etwas mehr in Deutschland bekannt wäre. Das Bild von amerikanischen Universitäten, das mir von dort entgegenschlägt, ist daran gemessen oft, gelinde gesagt, überraschend. Gelegentlich wird geradezu mit allem abgerechnet, was heute an intellektuellen Erneuerungen aus den USA kommt und mehr und mehr auch die deutschen Geisteswissenschaften prägt: Diskurse um Gender und Rassismus, Kolonialismus und Postkolonialismus, die gewohnte verkrustete Denkstrukturen aufwühlen, werden verantwortlich für die problematischen Seite der Proteste gemacht.
So las ich der FAZ am 30. April über die Columbia University, es sei Bestandteil des "Kerncurriculums", dass "das gesamte westliche System" oppressiv sei und "ein direkter Angriff auf das System der einzige Ausweg sei." Interessant dachte ich, mag sein, dass das dort, zwei Stunden südlich von Yale, so ist. Ich jedenfalls machte mich auf und ging in meinen Philosophiekurs, in dem wir dieses Semester Descartes, Kant und Hegel und andere gelesen hatten.
Um einen solchen Kurs beneide ich die amerikanischen Studierenden – im Laufe eines Jahres gehen sie die gesamte Philosophiegeschichte durch, von Plato bis ins 20. Jahrhundert. Das Erbe der europäischen Kultur wird hier gepflegt – und natürlich kritisch bedacht. Das nennt sich Wissenschaft. Wie sollte ein vernünftiger Mensch denn solche Texte ohne ihren jeweiligen historischen Kontext und ihre gesamtkulturellen Folgen lesen?
Von diesen Debatten über die repressiven Seiten der europäischen Kultur habe ich außerordentlich viel gelernt, vor allem eine Selbstrelativierung meiner eigenen kulturellen Hintergründe. Auch das ist elementar für einem angemessenen Umgang mit Geisteswissenschaften. Wie so viele Theorien können die neueren Ansätze in den Humanwissenschaften, zumal die postkolonialen Reflexionen, Augen öffnen, sie können aber natürlich wie alle Theorien auch vereinseitigt und in die falsche Richtung gelenkt werden.
Mit einer pauschalen Kritik an ihnen werden vielleicht wohlfeile Vorurteile über die Intellektuellenszene in den USA bedient, besonders wenn dergleichen Kritik süffisant mit Bildern von Gewalt auf dem Campus kombiniert wird. Die Ursachen dafür, warum derzeit an amerikanischen Universitäten das Leiden der Palästinenser:innen in Gaza so viel mehr Emotionen hervorruft als die Morde und Vergewaltigungen des 7. Oktober und das fortdauernde Leiden der Geiseln – derer, die noch leben – sind aber nicht so einfach mit der akademischen Lehre und den postkolonialen Diskursen zu erklären.
Natürlich sind es werdende Akademiker:innen, die da protestieren, aber vor allem sind es junge Menschen, Angehörige einer Generation mit ihren spezifischen Erfahrungen. Man wird die Unterschiede zur Debattenkultur in Deutschland nur verstehen, wenn man das tut, was geisteswissenschaftliche Studien und eben auch postkoloniale Theorien einfordern: die jeweiligen historischen Hintergründe zu analysieren, die den Blick auf die Gegenwart prägen.
Islamophobie in vielerlei Gestalt
In Deutschland sind wir von einer Erinnerungskultur geprägt, die sich in dem Satz des israelischen Präsidenten Isaac Herzog wiederfand, dass nie seit dem Holocaust so viele Juden an einem Tag getötet wurden wie am 7. Oktober. Eine erschütternde Feststellung.
Die Verbrechen der Hamas riefen in Deutschland aufs Neue die Erinnerung an die Gräuel des eliminatorischen Antisemitismus wach, und das Erschrecken führte zu einer Welle von Solidarität mit Israel, die auch noch in Zeiten durchhält, in denen zunehmend die Frage gestellt werden muss, wie verhältnismäßig das Handeln der israelischen Regierung noch ist, wie viele zivile Opfer für eine berechtigte Antwort auf ein solches Attentat in Kauf genommen werden dürfen.
Die Erfahrungen, vor denen die nachwachsende Generation in den USA den Nahost-Konflikt wahrnimmt, sind andere: Die Generation, die jetzt auf dem Campus protestiert, ist aufgewachsen im Schatten von Nine-Eleven, genauer: im Schatten der Reaktion der USA auf dieses Attentat. Das Attentat bildete den unmittelbaren Anlass für den Irakkrieg.
Zu den Begründungen gehörten Verweise auf angebliche Verbindungen des Irak mit dem Al-Quaida-Netzwerk – eine Behauptung, die später im 9/11 Commission Report des amerikanischen Kongresses zurückgewiesen wurde. Nicht nur der konkrete Krieg wurde durch die Attentate veranlasst, die Vereinigten Staaten erlebten Islamophobie in vielerlei Gestalt, bis hin zu dem Einreisestopp, den Trump im Jahr 2017 für Einwohner:innen von sieben arabischen Staaten verhängte.
Was die jetzt Zwanzigjährigen erlebt haben, war eine ungerechtfertigte Diffamierung von Muslim:innen, insbesondere Araber:innen. Diese Gruppierung wurde pauschal unter Terrorverdacht gestellt und ausgegrenzt. Der Protest, den wir jetzt beobachten, ist auch ein Protest gegen diese Islamophobie der amerikanischen Rechten.
Dabei tritt leider das in Deutschland so elementare Bewusstsein zurück, dass zu den Gründen der Einwanderung aus Europa der Antisemitismus gehörte, in seiner vernichtendsten Form im Dritten Reich, aber mit Wurzeln, die weit in das 19. Jahrhundert hineinreichen. Diese Geschichte, die tiefe Spuren in Europa hinterlassen hat, spielt für die Orientierung der heutigen jungen Generation in den USA eine viel geringere Rolle als die Islamophobie, die im politischen Alltag immer wieder spürbar ist.
Und während in Israel die traumatisierenden Bilder der Geiseln nachwirken, sind in der am Tagesgeschehen orientierten medialen Wirklichkeit außerhalb Israels die Bilder vom Leiden der Menschen in Gaza bestimmend geworden, und auch sie sind quälend. Wenn man mit Studierenden spricht, spürt man diesen unmittelbaren emotionalen Impuls. Sie wollen, dass das Leiden aufhört.
Einseitigkeiten nähren Parolen
Es sind Menschen mit Emotionen, und es sind kluge Menschen, die ihre Erfahrungen auch intellektuell reflektieren. Hier kommen nun in der Tat die postkolonialen Theorien hinein, die zunächst einmal zur kritischen Reflektion des eigenen Landes und seiner Geschichte der Unterdrückung und Vertreibung der indigenen Bevölkerung entwickelt wurden.
Zu Recht spielen sie eine große Rolle im intellektuellen Diskurs und dienen vielfach als Mittel, um Machtstrukturen zu verstehen, vergleichbar der wichtigen Rolle, die die Kritische Theorie für das geistige Leben in Deutschland gespielt hat: Es geht darum, die Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, die als Hinterlassenschaft des Kolonialismus die europäisch geprägten Gesellschaften geformt und die andere Kulturen verdrängt haben und strukturell immer noch verdrängen.
Dass es dabei nicht nur um Analyse und Feststellung, sondern auch um Gesellschaftsveränderung geht – Veränderung hin zu einer durchgreifenderen Realisierung der Verheißungen der Menschenrechte – , drückt ein Verständnis von öffentlicher Verantwortung der Intellektuellen aus, das man durchaus auch in Europa kennt, wenn auch mehr in Frankreich als in Deutschland.
Im Rahmen ihres weiteren Gebrauchs werden postkoloniale Theorien heute auch auf die Entwicklung der Idee zur Verwirklichung des jüdischen Selbstbestimmungsrechtes in einem eigenen Staat angewandt und dabei das Verhältnis zu der mit Nationalismus und Kolonialismus verwobenen Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts reflektiert – Das ist im Kern eine sinnvolle Fragestellung.
Und wie überall in den Wissenschaften müssen dabei Einseitigkeiten vermieden werden. Dazu kommt es offenkundig, wenn der europäische Antisemitismus als maßgeblicher Faktor für die jüdischen Fluchtwellen von Europa in den Nahen Osten nicht genügend berücksichtigt wird.
Solche Einseitigkeiten können in dem derzeitigen Gesamtbild im Extremfall auch Parolen nähren, mit denen Teile der Protestbewegung die Legitimität des Staates Israel bestreiten. Diese Forderung bestimmt die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) als antisemitisch. Seit Angela Merkel gilt sie als Widerspruch zur deutschen Staatsraison.
Wurzeln des Rassismus im Mittelalter
Solche Forderungen klar abzuweisen, heißt aber nicht, den postkolonialen Diskurs als solchen für sie verantwortlich zu machen. Wie oben beschrieben, spielen hier ganz andere Erfahrungen hinein. Umgekehrt gilt: Postkoloniales Denken in all seinen Facetten ist gerade deswegen unverzichtbar, weil es auch hilft, den Antisemitismus als die Form der Ausgrenzung besser zu verstehen, die über Jahrhunderte typisch für die christliche Dominanzgesellschaft war.
Die Literaturwissenschaftlerin Geraldine Heng hat Antisemitismus insofern als den Paradefall ("benchmark example") von Wurzeln des Rassismus schon im Mittelalter dargelegt. Statt sich dem postkolonialen Diskurs zu verweigern, sollte man ihn zur Selbstkritik der europäischen christlichen Geschichte nutzen.
Diese verstehen wir, leider, nicht vollständig ohne die Wurzeln des Antisemitismus – und wir können nur zu einem verantwortlichen Verständnis unserer selbst heute gelangen, wenn wir uns kritisch genau damit befassen. Das kann der kleine, aber nicht unwichtige Beitrag christlicher Theologie in Amerika wie in Deutschland zu einem zukünftigen Frieden in dieser Welt sein.
Über den Autor: Volker Leppin ist Professor of Historical Theology an der Yale University.