Marc Frings (Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, ZdK, und Mitglied der Katholikentagsleitung): Wir sind verabredet, um über das Leitwort des 103. Deutschen Katholikentages zu sprechen: "Zukunft hat der Mensch des Friedens". Sie sind engagierte Katholikin und Mitglied des ZdK. Wir treffen uns hier im Generalsekretariat der Herz Jesu Gemeinde in Ostberlin und der Grund Ihrer Reise nach Berlin ist das 75.-Jahre Jubiläum des Grundgesetzes. Wie schauen Sie selber auf diesen Text? Sind Sie Verfassungspatrioten?
Malu Dreyer (Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz): Ich bin auf jeden Fall ein ganz großer Fan unseres Grundgesetzes. Und ich würde auch für meine Generation sagen, dass wir ganz großes Glück hatten, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes unsere Verfassung so perfekt formuliert haben. Auf der wir unsere liberale Demokratie haben entwickeln können, mit den vielen Rechten und Freiheiten, die wir haben, aber natürlich auch mit den Pflichten. Ich glaube, ohne diesen Rahmen hätten wir nicht das Glück erleben können, dass wir uns so toll hier in Deutschland entwickeln.
Frings: Schauen wir auf den Zustand der Kirche. Unlängst wurde eine Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vorgelegt, die uns einerseits attestiert, dass wir gerade sehr viel Vertrauen verlieren, aber auf der anderen Seite gibt es auch 96 Prozent engagierter Katholikinnen und Katholiken, die sagen, dass sich diese Kirche verändern muss. Wie schauen Sie, als Katholikin, auf den Zustand der großen Kirchen hier in Deutschland?
Dreyer: Es ist natürlich eine riesige Herausforderung. Die katholische Kirche wird mittlerweile auch erfasst wird bei der KMU (Anm. der Redaktion: Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland). Dadurch hat man die Möglichkeit analytischer zu schauen. Einerseits gibt es den Befund, dass Deutschland säkularer wird. Und ich sage das jetzt vor allem vor dem historisch Hintergrund Westdeutschlands. Dort ist es eine ganz große Veränderung.
Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass die Botschaft Christi eigentlich für viele gar nicht mehr so relevant ist. Damit umzugehen ist, finde ich, eine ziemliche Herausforderung. Dazu kommt der große Schatten, der über der katholischen Kirche liegt: die Missbrauchsfälle und die Art und Weise des Umgangs mit ihnen. Das alles ist eine Herausforderung für die katholische Kirche.
Man muss sich damit auseinandersetzen und es ist vollkommen klar, dass Reformen kommen müssen. Das sagt diese Studie ganz ausdrücklich. Die, die in der Kirche bleiben und sagen, dass ihnen etwas an der Kirche liegt, haben eine ganz klare Botschaft an uns, nämlich dass die Kirche reformiert werden muss.
Frings: Das ist die binnenkirchliche Perspektive, dass es diese Reformschritte braucht. Da sind wir uns beide sicherlich sehr einig. Gleichzeitig wollen wir als Christinnen und Christen im ZdK Öffentlichkeit und Politik gestalten. Deswegen veranstalten wir den Katholikentag in Erfurt, der ein großes Friedensfest werden soll. Wir wollen Demokratie, Pluralismus, die Rechtsstaatlichkeit feiern, eine Woche vor der Europawahl. Glauben Sie, wenn Sie jetzt als Politikerin auf die Kirche schauen, dass wir mit diesen Botschaften gehört werden?
Dreyer: Natürlich meine ich das. Wir leben in einer Zeit, in der die Demokratie schon sehr stark angefeindet wird, so würde ich es mal formulieren. Die Räume für den politischen Dialog, auch beim Thema Demokratie, sind sehr eng geworden. Deshalb ist es ein tolles Angebot der katholischen Kirche und des ZdK, den Katholikentag so zu gestalten und auch unter dieses Motto zu stellen. Das Angebot, in den Dialog mit allen möglichen Protagonisten zu kommen und darüber zu sprechen, was diese Anfeindungen für unsere Demokratie bedeuten: Was haben wir für eine Verpflichtung in der Gesellschaft um Demokratie zu stärken? Und es ist ganz klar: Christen und Christinnen haben da einen klaren Auftrag an dieser Stelle.
Frings: Sie sprechen von engen Räumen. Ich glaube, es ist der Auftrag aller Demokratinnen und Demokraten in diesem Land, diese Räume wieder zu weiten. Was kann die Politik da wiederum leisten, dass diese Diskurse, die sie gerade beschreiben und einfordern, wieder besser funktionieren können?
Dreyer: Es ist auch für die Politik eine anstrengende Zeit. Aber wir müssen uns überlegen, wie wir es schaffen, wieder ins Gespräch zu kommen. In Rheinland-Pfalz zum Beispiel entwickeln wir gerade mit unserer Fraktion eine Veranstaltungsreihe, die gut funktioniert. Ich war schon zweimal dabei: "Demokratie - Das sind wir".
Wir laden zivilgesellschaftliche Protagonisten ein und auch ich spreche da eine Viertelstunde. Die Protagonisten reden aber nicht über ihre Organisation alleine, sondern darüber, welche Funktion, welche Rolle sie in der Demokratie spielen. Das lädt zum Dialog ein, auch mit Bürgern und Bürgerinnen, auch mit Andersdenkenden, was das Thema Demokratie betrifft und das finde ich total erfreulich.
Wir müssen uns überlegen, wie wir es wieder schaffen Menschen anzusprechen, die zwar kein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild haben, die sich aber möglicherweise von deren Parolen angesprochen fühlen. Die wieder miteinander in den Dialog zu bringen, halte ich für eine der größten Herausforderungen der Zeit.
Frings: Und trotzdem gibt es diese Feinde auch im Parlamentarismus. Das ist die AfD, um den Elefanten im Raum auch klar zu benennen. Wir haben in den letzten Tagen viele Nachrichten gehört. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat noch einmal klar gemacht, dass es sich um einen rechtsextremistischen Verdachtsfall handelt. Selbst die Rechtsradikalen im Europaparlament wollen nicht länger mit der AfD kooperieren. Haben wir genug Instrumente aktiviert oder muss nicht doch über ein Parteienverbot nachgedacht werden?
Dreyer: Wir feiern ja gerade 75 Jahre Grundgesetz und dieses Grundgesetz hat uns auch Mittel in die Hände gegeben, um Demokratie wehrhaft zu machen. Ein Instrument ist das Parteiverbot. Das ist sicherlich das am weitesten gehende Instrument. Damit muss man sehr zurückhaltend umgehen, denn die Anforderungen sind zu Recht sehr hoch.
Deshalb glaube ich, dass wir weiter schauen müssen was vorliegt. Wie sind die Einschätzungen der Verfassungsdienste? Macht es Sinn, wirklich einen solchen Schritt zu gehen? Das muss man abwägen. Vielleicht kommt der Zeitpunkt, an dem man sagt, das ist der richtige Schritt. Aber davor gibt es ganz viel anderes, nämlich als Staat wehrhaft zu sein, im Strafrecht. Wie geht die Polizei, die Justiz mit all den Fällen, die jetzt auch in der Aktualität auftreten, um?
Aber es geht auch darum, dass Bürger und Bürgerinnen sagen: “Ich habe da einen Anteil.” Der Bundespräsident hat uns auch gerade dazu aufgerufen. Wir müssen uns klarmachen, dass wir zurzeit alle eine Rolle haben die Demokratie zu verteidigen, egal wo wir sind: in der Kirche, in einem öffentlichen Raum, im Verein, beim Sport, im Betrieb, im Umfeld, zu Hause.
Wenn Worte gesprochen werden, die ausgrenzend sind, die eher auf Spaltung ausgerichtet sind, die einen anderen Staat im Auge haben, dann ist jeder gefordert zu widersprechen oder zu versuchen, mit den Menschen in den Dialog zu kommen und ihnen deutlich zu machen, dass es nicht die Gesellschaft wäre, die wir uns vorstellen. Christen und Christinnen würde ich immer sagen: “Es hat nichts damit zu tun, was wir in unserem Glauben leben.”
Frings: Sie sprechen von Ausgrenzung. Reden wir über den gesellschaftlichen Frieden. Wir sehen nicht erst seit dem 7. Oktober einen massiven Anstieg des Antisemitismus in Deutschland. Muslimfeindlichkeit steigt und neuerdings auch Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker. Katrin Göring-Eckardt wurde neulich in Brandenburg von betrunkenen Männern angefeindet. Wird Demokratie und Wahlkampf immer mehr zur Mutprobe?
Dreyer: Das ist ein sehr hochgegriffenes Wort würde ich sagen. Natürlich brauchen Menschen den Rückhalt der Gesellschaft, wenn sie sich politisch engagieren. Dazu rufe ich auch auf. Man muss sich aber klarmachen, dass ganz viele Mitglieder in Gemeinderäten oder Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, ehrenamtlich unterwegs sind. Sie haben keinen auch Personenschutz, wie ich beispielsweise.
Sie müssen sich auch rechtfertigen in einer solchen Situation. Sie müssen sich sicher fühlen. Das heißt, sie haben einerseits das Strafrecht auf ihrer Seite, die Polizei, Ansprechpartner bei uns im Land, aber sie brauchen auch die Gesellschaft, die sich ganz klar hinter sie stellt und sagt : "Wir gehen nicht nur zur Wahl und wählen demokratisch, sondern wir stellen uns auch hinter die Repräsentanten der Politik." Das heißt, dass wir uns auch nochmal neu überlegen müssen, was es eigentlich bedeutet sich politisch zu engagieren. Was bedeuten Parteien?
Das ist alles sehr stark in Verruf geraten. Heute braucht die Demokratie eigentlich Menschen, die sich hinter die Menschen stellen, die bereit sind, ihre Freizeit aufzubringen, um sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Und vielleicht noch ein Wort, dass der Antisemitismus, so stark wie er in Deutschland ist, etwas sehr, sehr Schlimmes ist. Auch für mich persönlich. Wir alle haben uns geschworen: "Nie wieder". Wir sind mittendrin. Und das ist für Juden und Jüdinnen in unserem Land wirklich eine Katastrophe. Überall zu spüren, dass sie nicht mehr frei sind, sondern dass sie angefeindet und diskriminiert werden. Das ist ein unerträglicher Zustand.
Frings: Wir reden kurz vor der Europawahl auch viel über Migration, über Asylpolitik. Die Regierung und damit auch die SPD hat einer Verschärfung auf europäischer Ebene zugestimmt. Gleichzeitig sind es die Kommunen, die den Geflüchteten konkrete Hilfe organisieren. Wir sehen hier dieses Spannungsverhältnis, dass europäische Entscheidungen am Ende in den Gemeinden, im ländlichen Raum unmittelbare Konsequenzen haben.
Die Kommunen klagen immer wieder darüber, dass sie letztlich auch an die Grenzen ihrer Fähigkeiten kommen. Wie erleben Sie dieses Spannungsverhältnis in der Politik zwischen einer wertegeleiteten Entscheidungskulisse, auf der man sich bewegt, und den Interessen und Herausforderungen auf der anderen Seite?
Dreyer: Diese Klagen haben haben wir tatsächlich gerade überall. Und man muss ganz realistisch sein: Es gibt keinen anderen relevanten Politikbereich, der in Europa seit Jahren so ungeregelt stattfindet, so dass jeder eine eigene Rechtsanwendung findet und jeder Mitgliedsstaat sich seiner Probleme im Grunde einfach entledigt. Indem er entweder die Menschen einfach durchwinkt oder bestimmte Regeln gar nicht einhält. Deshalb ist es wirklich notwendig einen gemeinsamen europäischen Rechtsrahmen zu haben. Ich verstehe ganz viele.
Christen und Christinnen sind echt aktiv in der Flüchtlingshilfe. Sie haben ihr ganzes Herzblut dort. Das brauchen wir auch in Zukunft. Manche hadern auch mit der Entscheidung, die da getroffen worden ist.
Am Ende sage ich: Es ist das Wichtigste, dass wir jetzt zu einer gemeinsamen Regelung gekommen sind. Natürlich müssen wir bei der Ausgestaltung darauf achten, dass wir weiterhin human bleiben. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass Humanität nur so lange geht nur, wie man in der Gesellschaft auch eine Akzeptanz hat.
Im Moment ist die Situation angespannt, weil viele vor Ort auch das Gefühl haben, dass unsere Systeme überfordert sind und wir deshalb bessere Regelungen in Europa brauchen, damit wir auch in Zukunft notleidenden Menschen human begegnen können.
Frings: Sie sagen zu Recht, dass die Gesellschaft angesichts dieser Lage langsam angespannt ist. Gleichzeitig sagt uns die KMU, dass es gerade Christinnen und Christen sind, als aktive Mitglieder in der katholischen und evangelischen Kirche, die diese ehrenamtliche Arbeit leisten. Ich glaube, das ist einer der wenigen Punkte, wo diese Studie auch noch einmal deutlich macht, wie wichtig es ist, dass es diese Kirchen in der Gesellschaft gibt.
“Zukunft hat der Mensch des Friedens” ist das Leitwort des kommenden Katholikentags. Das ist ein sehr mutmachendes Leitwort, mit dem wir uns in Erfurt beschäftigen wollen. Was stimmt Sie eigentlich zuversichtlich? Wann haben Sie doch das Gefühl, dass die Politikgestaltung auch Hoffnungssignale bietet?
Dreyer: Im Grunde bin ich ein sehr optimistischer Mensch. Das hilft mir auch im Alltag. Ich sehe im Kleinen, dass immer wieder Probleme gelöst werden. Die Probleme sind riesig. Aber wenn man vor Ort schaut, wofür Menschen engagiert sind und wie sie die Kraft aufbringen, gemeinsam an einem Strang zu ziehen und Dinge zu lösen, dann macht das auch schon sehr viel Mut.
Und es sind eben auch Christen und Christinnen, zum Beispiel in der Flüchtlingsarbeit, aber auch an ganz vielen anderen Stellen, die sagen: “Wir lassen uns nicht kleinkriegen. Wir haben einen inneren Auftrag und den wollen wir auch erfüllen.” Und man merkt auch, dass sie lösungsorientiert unterwegs sind und damit auch immer wieder Zeichen der Hoffnung setzen, weil Menschen sehen, dass da ja auch Dinge gelingen.
Ich finde, wir sollten mehr über dieses Gelingen sprechen. Das täte uns allen gut. Es würde, glaube ich, auch viel bessere Laune machen in unserer Gesellschaft, wenn wir zeigen würden, was doch auch alles gelingt. Und es gelingt mehr, als man manchmal glaubt.