Vor dem Landgericht Köln wird am Dienstag erneut eine Schmerzensgeldklage einer Missbrauchsbetroffenen gegen die katholische Kirche verhandelt. Die 57-Jährige fordert rund 850.000 Euro. Es ist der dritte größere Prozess in Deutschland, bei dem über die Haftung der Kirche für sexualisierte Gewalt durch ihre Mitarbeiter entschieden wird. Die von der Deutschen Bischofskonferenz initiierte Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) hatte der Betroffenen 70.000 Euro zugesprochen.
Die Pflegetochter des inzwischen aus dem Klerikerstand entlassenen Priesters U. fordert vom Erzbistum ein Schmerzensgeld von 830.000 Euro, außerdem 20.000 Euro für weitere Kosten wie Therapien. Wie schon in einem früheren Prozess verzichtete die Erzdiözese darauf, Verjährung geltend zu machen. Priester U. war 2022 in einem viel beachteten strafrechtlichen Verfahren wegen mehrfachen Missbrauchs an neun Mädchen zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden.
Erst Alkohol verabreicht, dann missbraucht
Die jetzige Klägerin ist von U. in den späten 70er und frühen 80er Jahren vielfach aufs Schwerste missbraucht worden, wie sie dem "Bonner General-Anzeiger" sagte. Als Halbwaise sowie Tochter einer suchterkrankten Mutter habe sie in Heimen gelebt. Das Mädchen zog mit neun Jahren in ein Waisenhaus in Bonn, in dem U. ehrenamtlich tätig gewesen sei.
Der damalige Priesteramtskandidat hat nach Schilderung der Frau dort begonnen, sie zu missbrauchen. "Vorher hat er mir Alkohol gegeben, sodass ich betrunken war und kaum noch etwas mitbekam." An Wochenenden habe U. sie mit ins Priesterseminar nach Köln genommen und mit ihr im selben Bett geschlafen.
Ahnte Höffner etwas?
In den Jahren 1979 und 1980 war U. laut dem Zeitungsbericht in Alfter tätig. Dorthin nahm er das Kind aus dem Waisenhaus mit. Der Anwalt Eberhard Luetjohann erzählte der Zeitung, es habe auf der damaligen Leitungsebene des Erzbistums Diskussion darüber gegeben, ob der damals 30-jährige Priesteramtskandidat Pflegekinder zu sich nehmen könne. Die Frage war, ob er sich dann noch genug seinen Pflichten für die Kirche und Gemeinde widmen könne.
Aus den Akten gehe hervor, dass der damalige Kölner Kardinal Höffner lange über den Wunsch von U. nachgedacht habe, erläuterte Luetjohann in der "Zeit"-Beilage "Christ und Welt". Schließlich habe er es unter der Bedingung erlaubt, dass das Kind getauft und eine Haushälterin eingestellt werde. Eine solche habe es aber nie gegeben. In Alfter musste die Betroffene nach eigenen Worten "härtere Sachen" als im Kinderheim trinken und weitere Formen sexuellen Missbrauchs aushalten.
Zwei mal schwanger, zwei Abbrüche
1980 wurde U. zum Priester geweiht und versetzt. An der neuen Stelle nahe Kerpen sei es noch schlimmer geworden, so die Klägerin. Hier wurde nach ihren Angaben auch eine Schwangerschaft durch einen gynäkologischen Eingriff, dessen Ziel sie vorher nicht kannte, beendet. Bei einer zweiten Schwangerschaft habe sie sich selbst für einen Abbruch entschieden. Aus der Abhängigkeit von U. habe sie sich befreien können, als sie einen Ausbildungsplatz hatte. "Er hat mir meine Kindheit genommen, mein Wesen und meine Persönlichkeit zerstört."
Der nun bevorstehende Prozess ist das zweite Verfahren dieser Art gegen das Erzbistum Köln. Vor knapp einem Jahr hatte das Kölner Landgericht in einem wegweisenden Urteil entschieden, dass die Erzdiözese dem Missbrauchsbetroffenen und früheren Messdiener Georg Menne 300.000 Euro zahlen soll. Das ist die bislang höchste Summe an Schmerzensgeld, die ein deutsches Gericht einem Betroffenen von sexualisierter Gewalt in der Kirche zugesprochen hat. Auch hier hatte die Kirche nicht auf Verjährung gepocht. Gefordert hatte Menne 725.000 Euro plus 80.000 Euro für mögliche künftige Schäden. Im System der kirchlichen Zahlungen in Anerkennung des Leids hatte Menne 25.000 Euro erhalten.
Kölner Urteil war maßgeblich
Nach diesem System bekommen Missbrauchsbetroffene von katholischen Bistümern und Orden freiwillig Zahlungen. Über die Höhe entscheidet die 2021 eingesetzte Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen. Seit dem Menne-Urteil spricht sie vermehrt höhere Summen zu. Aus ihrem Ende März vorgestellten Tätigkeitsbericht für 2023 geht hervor, dass mehr Betroffene als in den Vorjahren Zahlungen von mehr als 50.000 Euro erhalten haben. In vier Fällen wies die UKA Beträge von mehr als einer Viertel Million Euro an. Bei den Entscheidungen habe die Kommission das Kölner Urteil berücksichtigt, sagte die Vorsitzende Margarete Reske.
Im bayerischen Traunstein läuft derzeit ein weiterer Prozess um Schmerzensgeld. Ein Missbrauchsbetroffener beklagt das Erzbistum München und Freising auf 300.000 Euro Schmerzensgeld. Der Mann war als Ministrant Mitte der 1990er Jahre durch einen Pfarrer missbraucht worden.
Vieles deutet darauf hin, dass es nicht bei diesen drei Gerichtsverfahren bleibt. Deutschlandweit haben Betroffene weitere Klagen angekündigt - beispielsweise gegen die Bistümer Trier und Hildesheim. Manche Bistümer wollen die Verjährung geltend machen und bevorzugen außergerichtliche Lösungen. Die Diskussion, wie angemessene Entschädigungszahlungen für Missbrauchsbetroffene aussehen, ist also noch lange nicht beendet.