Künftige Präsidentin Mexikos will Dialog mit Kirche führen

"Keine einfache Gesprächspartnerin"

Claudia Sheinbaum wird die erste Frau an der Spitze des Staates und die erste Jüdin. Sie zitiert schon mal den Papst, könnte als Physikerin stärker auf erneuerbare Energie setzen und muss die Gewalt der Kartelle in den Griff bekommen.

Claudia Sheinbaum zeigt ihren Stimmzettel während der Parlamentswahlen / © Matias Delacroix (dpa)
Claudia Sheinbaum zeigt ihren Stimmzettel während der Parlamentswahlen / © Matias Delacroix ( dpa )

DOMRADIO.DE: Claudia Sheinbaum ist 61 Jahre alt und stammt aus einer säkularen jüdischen Familie. Wofür steht sie? Wofür haben die Leute sie jetzt gewählt? 

Katharina Louis / © Martin Steffen (Adveniat)
Katharina Louis / © Martin Steffen ( Adveniat )

Katharina Louis (Mexiko-Referentin beim katholischen Hilfswerk Adveniat): Claudia Sheinbaum ist vor allem eine treue Anhängerin des aktuellen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, kurz Amlo. Sie war aber von 2018 bis 2023 auch Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt und bringt insofern selbst Regierungserfahrung mit. 

Ich denke, die Menschen erwarten von ihr jetzt vor allem, dass sie Amlos Sozialpolitik fortsetzt. Er hat nämlich den Mindestlohn um mehr als das Doppelte erhöht, nachdem dieser zuvor 30 Jahre lang nicht angehoben worden war. Das war bitter nötig und hat vielen Menschen das Leben einfacher gemacht. Ebenso hat Amlo eine allgemeine Rente eingeführt, auf die jeder Anspruch hat. Das waren gute Entwicklungen, die die Menschen sofort gespürt haben. Sie wünschen sich, dass das so weitergeht und haben deshalb für die Kandidatin von Amlos Partei Morena gestimmt. 

DOMRADIO.DE: Die erschütternden Zahlen von über 35 Todesopfern im Wahlkampf sprechen eine deutliche Sprache. Die bisherige Regierung unter Amlo hat die Gewalt der Drogenkartelle schlicht nicht in den Griff bekommen. Trauen Sie der designierten Präsidentin da mehr zu? 

Katharina Louis

"Die künftige Präsidentin setzt ähnlich wie ihr Amtsvorgänger auf ein starkes Militär."

Louis: Das wäre wünschenswert. Allerdings ist das eine gewaltige Herausforderung, denn die Kartelle in Mexiko sind leider immer weiter erstarkt. Schon in der Zeit des Präsidenten Peña Nieto von 2012 bis 2018, in der er den Kartellen den Krieg erklärte, stieg die Gewalt stark an. Und auch Amlos Politik des sogenannten "Abrazos, no balazos" – "Dialog statt Gewalt" hat leider keine Verbesserung der Sicherheitslage gebracht. 

Die künftige Präsidentin setzt ähnlich wie ihr Amtsvorgänger auf ein starkes Militär. Da stellt sich die Frage, wie dieses Militär denn helfen soll, wenn es doch nach den Beobachtungen der Menschen trotz seiner Präsenz weiter zu Gewalt durch die Kartelle kommt. Die Menschen wissen gar nicht, wer sie eigentlich beschützt. 

DOMRADIO.DE: An dieser Stelle sollten wir über die "Nationale Friedensagenda" sprechen. Was steckt dahinter? 

Louis: Diese Friedensagenda ist eine sehr interessante Entwicklung. Die katholische Kirche in Mexiko hat relativ viel Einfluss und steht tatsächlich an der Seite des Volkes. Nachdem die Gewaltsituation nicht besser wurde, sondern sich sogar weiter verschlimmerte, gab es nach dem Mord an zwei Jesuiten im Jahr 2022 eine Art Weckruf. 

Da hat die Kirche, da haben die Jesuiten gemeinsam mit den Ordens- und Bischofskonferenzen  sowie der Vertretung der Laien einen Friedensprozess in Gang gesetzt. An diesem großen Dialogprozess waren sehr viele beteiligt, bis zu 20.000 Menschen in den Dialogen in Pfarreien, in Universitäten und Foren. Es waren zum Beispiel auch Unternehmer dabei und Vertreter der Polizei, Repräsentanten der gesamten Gesellschaft. So haben sie gemeinsam eine Nationale Friedensagenda entwickelt: Wie könnte es gehen? Wie könnte die Gewaltsituation entschärft werden? Wie kann die Bevölkerung Wege finden, um friedlich zu leben? 

DOMRADIO.DE: Diese Agenda haben sie dann den Präsidentschaftskandidaten vorgelegt. Wie hat Claudia Sheinbaum reagiert? 

Katharina Louis

"Das hat Sheinbaum abgelehnt und damit den Erfahrungen und Aussagen unserer Projektpartner widersprochen."

Louis: Tatsächlich haben die drei wichtigsten Präsidentschaftskandidaten die Friedensagenda unterschrieben. Interessanterweise hat Claudia Sheinbaum dazu aber als einzige ein Ergänzungsdokument vorgelegt. Darin hat sie die Passagen abgelehnt, die die Militarisierung des Landes als problematisch beschreiben und besagen, dass die Bevölkerung in Angst lebt und Misstrauen gegenüber den Institutionen hegt. Das hat Sheinbaum abgelehnt und damit den Erfahrungen und Aussagen unserer Projektpartner widersprochen. 

DOMRADIO.DE: Mexiko hat nach Brasilien die zweitgrößte katholische Bevölkerung der Welt. Die Kirche spielt eine große Rolle. Amlo hatte einerseits ein schwieriges Verhältnis zu den mexikanischen Bischöfen, hat sich andererseits aber immer wieder auf Papst Franziskus und dessen soziale Ideen berufen. Wie wird sich nun wohl das Verhältnis der künftigen Staatschefin zur Kirche entwickeln? 

Louis: Claudia Sheinbaum hat sich ähnlich wie Präsident Amlo mit Papst Franziskus auseinandergesetzt und zum Beispiel die Enzyklika "Fratelli tutti" zitiert. Sie kennt also die Dokumente des Papstes. Gleichzeitig hat sie sich politisch von der Kirche abgegrenzt, so wie ich es mit Blick auf die Friedensagenda beschrieben habe. Ich denke, sie ist keine einfache Gesprächspartnerin, sie ist nicht automatisch auf dem Kurs der katholischen Kirche. Sie ist ja auch nicht katholisch; aber sie wird zumindest den Dialog weiterführen. Das hat sie angekündigt, als sie die Agenda unterschrieben hat. 

DOMRADIO.DE: Spielt Sheinbaums familiärer Hintergrund als säkulare Jüdin da eine Rolle? 

Katharina Louis

"Sie hatten Marx im Regal stehen, waren also politisch links."

Louis: Eine persönliche Nähe zur Kirche, wie zum Beispiel die Gegenkandidatin Gálvez sie hat, ist bei Claudia Sheinbaum nicht per se gegeben. Sie ist selbst in einer jüdischen Familie aufgewachsen. Allerdings waren ihre Eltern Wissenschaftler; sie hatten Marx im Regal stehen, waren also politisch links. Ich denke, das hat Sheinbaum stärker beeinflusst als die Tatsache, dass sie Jüdin ist. 

DOMRADIO.DE: Bei dieser Wahl war ihre schärfste Konkurrentin Xóchitl Gálvez ebenfalls eine Frau. Jetzt bekommt Mexiko seine erste Präsidentin überhaupt. Haben Sie die Hoffnung, dass das etwas ändern könnte an der massiven Gewalt, die bisher in Mexiko gerade auch Frauen getroffen hat? 

Louis: Das ist keine einfache Frage. Ich denke, Claudia Scheinbaum könnte mehr auf die Frauen in der Politik setzen. Andererseits hat sie in ihrer Zeit als Bürgermeisterin auch Frauenbewegungen niedergeschlagen. Sie ist also nicht immer auf der Seite der Frauen, auch wenn das erstaunlich ist. Aber Sheinbaum möchte die Sicherheitspolitik allgemein verbessern, auch mit Hilfe der Polizei. Das könnte Frauen zugutekommen. 

DOMRADIO.DE: Sie arbeiten als Lateinamerikahilfswerk mit vielen Partnern vor Ort. Was sind deren Forderungen an die künftige Präsidentin? 

Louis: Angesichts der extremen Gewaltsituationen herrscht natürlich ein großes Bedürfnis nach mehr Frieden und mehr Sicherheit im Land. Es gibt in Mexiko ein großes Problem mit Straflosigkeit; die Kartelle agieren mehr oder weniger ungestraft und haben in einigen Gebieten die Kontrolle übernommen. Insofern ist Mexiko nicht komplett unter staatlicher Kontrolle. Das wird für die künftige Präsidentin genauso ein Problem sein wie es für den scheidenden Präsidenten war. 

Katharina Louis

"Wird dieses Militär jetzt einer Frau folgen?"

Das Militär hat großen Einfluss, auch gute Gehälter. Wird dieses Militär jetzt einer Frau folgen? Das fragen sich auch die Projektpartner: Wie wird die Präsidentin mit den Militärs zurechtkommen? Außerdem fordern unsere Partner, die Justiz zu verbessern und die Gesellschaft besser zu schützen.  Was die Präsidentin als Physikerin neu einbringen könnte, wäre, die Wirtschaft von den fossilen Rohstoffen wegzulenken. Die standen zu Amlos Zeiten sehr im Vordergrund, was natürlich für die Umwelt alles andere als gut war. Da Claudia Sheinbaum sogar zum Thema umweltfreundliche Energien gearbeitet hat, besteht zumindest die Hoffnung, dass sie in dieser Hinsicht etwas ändern wird. 

Das Interview führte Hilde Regeniter

Quelle:
DR