DOMRADIO.DE: Sie kennen die Pariser Titularorganisten sehr gut, haben selber in Paris studiert. An Notre-Dame sind es gleich mehrere so genannte Titularorganisten. Was bedeutet der Begriff?
Ansgar Wallenhorst (Konzertorganist, künstlerischer Leiter der Orgelwelten Ratingen und Orgel-Experte): Wir lieben Frankreich, durch diese schöne Verbindung von Légèreté, der Leichtigkeit, aber auf der anderen Seite auch der Eleganz, der Form wegen. Zu dieser Form in Frankreich gehört das Titularisieren.
Das ist in allen Bereichen so, man ist titulaire d'un doctorat, das heißt, man ist promoviert, man hat eine Funktion bekommen, ist ernannt worden. Das ist bei den Organisten in Frankreich so üblich. Historisch ist der Hintergrund der, dass wir in Frankreich eine Trennung von Staat und Kirche haben und damit ein sehr komplexes System in diesem Bereich der Organisten. Das ist zunächst der jeweilige Pfarrer, Rektor der Kirche oder der Dompropst an einer Kathedrale, der einen oder mehrere Organisten zum Titularorganisten ernennt.
DOMRADIO.DE: Das bedeutet, sie sind fest angestellt oder werden nach Leistung bezahlt?
Wallenhorst: Bezahlung ist ein ganz anderes Thema. Wir sind in Deutschland und im deutschsprachigen Raum in der glücklichen Lage, hauptamtliche Kirchenmusiker zu haben. Das gibt es in ganz Frankreich nicht. Eine einzige Ausnahme, - das ist in diesem Fall auch von Bedeutung - ist der Organist der Chororgel in Notre-Dame. Der wird über eine Stiftung bezahlt.
Die Titularorganisten bekommen überall in Frankreich nur eine kleine Aufwandsentschädigung. Sie sind im Prinzip dafür verantwortlich große Feste, Gottesdienste zu gestalten. Und sie sind auch Kustos der Orgel. Das ist ein wichtiger Punkt.
In Frankreich ist es so, dass die Kirchen, die Pfarrkirchen der Kommune, der Stadt gehören und die Kathedralen dem Staat. Das ist auch wichtig. Der Titularorganist ist als Kustos der Orgel, Bindeglied zwischen seiner Funktion für die Kirchengemeinde oder die Kathedrale und dem Staat, der dann Eigner des jeweiligen oder der jeweiligen Instrumente ist.
DOMRADIO.DE: Jetzt gibt es diesen Ärger, den wir über eine Onlinepetition mitbekommen haben. Es heißt, die Titularorganisten seien damals aus wirtschaftlichen Gründen entlassen worden. Jetzt soll ein neuer, deutlich jüngerer Organist dazukommen. Können Sie verstehen, warum es eine so große Verärgerung unter den Titularorganisten gibt?
Wallenhorst: Zunächst muss man sagen, mit dem Brand 2019 hat sich einiges geändert, aus wirtschaftlichen Gründen. Man muss sich vorstellen, dass unabhängig von diesem großen Spendenaufkommen, was zum Wiederaufbau der Kathedrale an den Staat geflossen ist, der Betriebsmittelhaushalt der Kathedrale ganz heruntergefahren wurde. Man hatte keine Einnahmen mehr durch eine große Anzahl von Gottesdienstteilnehmern, es gab keine Einnahmen durch Tourismus, durch Verkäufe und ähnliches. Das ist der Grund gewesen.
Man hat erst mal den Posten von Olivier Latry, von Philippe Lefebvre und von Vincent Dubois ruhen lassen. Damals ist schon durchgesickert, dass Philippe Lefebvre zum Organisten emerité ernannt werden sollte, wenn die Kathedrale wiedereröffnet wird. Dies ist in einem neuen Verfahren, was ohne einen Wettbewerb stattgefunden hat, von dem Rektor der Kathedrale nun bekannt gemacht worden, dass man eine Neuerung in dieser Zusammenstellung vorgenommen hat.
DOMRADIO.DE: Das wird als "Gipfel der Unfeinheit" bezeichnet von den Organisten, dass einem Hauptspieler der großen Orgel nicht vorgeschlagen worden ist, seinen Ruhestand zu verschieben, damit er mit Respekt und Würde verabschiedet werden kann. Stattdessen kommt recht unvermittelt noch ein sehr junger Organist dazu. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass es zwischen dem Rektor der Kathedrale und den Organisten noch zu einer Einigung kommt?
Wallenhorst: Das muss man jetzt sehen, ob die Petition ein guter Weg ist. Die macht auf jeden Fall deutlich, dass es dort Kommunikationsbedarf gibt. Der Fall, den Sie angesprochen haben, ist auch virulent.
Philippe Lefebvre ist seit 1985 mit Olivier Latry, damals noch mit Yves Devernay und Jean-Pierre Leguay ernannt worden. Man muss sagen, Philippe Lefebvre ist neben seiner großen Qualifikation als Musiker auch ein exzellenter Manager. Er hat Konservatorien in Frankreich geleitet, er war Intendant der Kathedrale.
Das heißt, er hat vor allen Dingen in Jahren vor dem großen Kathedralen-Jubiläum 2012 im Prinzip die Kathedrale aus einem millionenschweren Defizit herausgeholt und sich große Verdienste um Notre-Dame erworben, nicht nur als Organist.
Das ist sehr schade, dass man ihm jetzt nicht eine Brücke gebaut und gesagt hat, mit Vollendung seines 75. Lebensjahres, spielt er vielleicht noch ein halbes Jahr weiter nach der Wiedereröffnung. Und danach würde man ein - ganz wie es Usus ist - ein großes Verfahren machen.
In diesem Fall hat man ihn auch etwas brüskiert, würde ich sagen. Ich denke, das ist eine Frage des Anstands und des Umgangs miteinander, dass man einen so respektablen, altgedienten Musiker jetzt nicht einfach vor die Tür setzt.
DOMRADIO.DE: Glauben Sie, dass man sich da noch einigen kann? Oder ist das Tischtuch zerschnitten?
Wallenhorst: Das ist schwierig zu sagen, es ist komplex. Philippe Lefebvre ist ein Punkt in dieser Ernennung. Man hat bekannt gegeben, Philippe Lefebvre ist Organist Emerité. Das ist zum Beispiel auch Jean-Pierre Leguay, aber er ist offiziell verabschiedet worden. Bei Philippe Levebre findet keine Verabschiedung statt.
Der zweite Punkt ist, man hat Thierry Escaich, einen sehr verdienten Organisten, Titularorganisten von St. Étienne-du-Mont sowie ein weltbekannter Komponist zum Titularorganisten ernannt. Das ist erst mal auch eine gute Entscheidung, die von allen akzeptiert wird.
Strittig ist aber, dass man einen jungen Organisten ernannt hat, der noch keinen Abschluss hat. Das ist von vielen der Punkt des Ärgernisses, dass man gesagt hat, warum diese Ernennung und zugleich die Entlassung eines weiteren Organisten, und zwar des zweiten Organisten der Chororgel. Es ist ein Konglomerat von unglücklichen Entscheidungen und unglücklichen Wegen der Kommunikation.
DOMRADIO.DE: Die Orgel ist Gott sei Dank nicht zerstört worden, sie war stark verschmutzt. Was wissen Sie da über den Stand der Renovierung? Wird sie wieder so klingen, wie vorher?
Wallenhorst: Mein Stand ist der, dass die Orgel nach diesem Akt der Reinigung schon im Frühjahr wieder eingebaut worden ist. Momentan wird intoniert an der Orgel. Das dauert bei einem großen Instrument noch die kommenden Monate, weil es nur nachts gemacht wird.
Am 8. Dezember, wenn die Wiedereinweihung der Kathedrale ist, wird diese Orgel wieder erklingen. Das war ein ganz wichtiger Punkt, dass die Orgel wieder in der ganzen Pracht zu hören ist, auch für den vom Präsidenten ernannten Bauleiter, den General Jean-Louis Georgelin, der leider im letzten Jahr verstorben ist.
Wir gehen davon aus, das haben auch die Organisten bestätigt, dass sich an der Akustik nichts geändert hat. Das ist sehr erfreulich. Von daher ist damit zu rechnen, dass die Orgel von Notre-Dame in ihrem ganz besonderen Klang am 8. Dezember wieder alle erfreuen wird.
Das Interview führte Mathias Peter.