Die französische Kirche hadert mit sich und Abbé Pierre

"Bischöfe sind immer in der Defensive"

Er sei auch für Kirchenferne ein "säkularer Heiliger" gewesen. Der Frankreich-Experte Tom Heneghan glaubt nicht, dass die Missbrauchsenthüllungen zu Abbé Pierre einer ohnehin schwachen französischen Kirche noch stark schaden können.

Abbé Pierre / © KNA (KNA)
Abbé Pierre / © KNA ( KNA )

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn Abbé Pierre? Er war auf Platz eins der beliebtesten Franzosen auf Umfragen über Jahre. Das heißt, nicht nur für die Katholiken hat er eine große Rolle gespielt...

Tom Heneghan (katholischer Journalist und Korrespondent u. a. für das britische Magazin The Tablet): Er war ein säkularer Heiliger für viele Franzosen. Er verkörperte die Güte. Er hat Solidarität mit den Armen und Obdachlosen gezeigt. Die Franzosen mögen das sehr. Es gab auch Sr. Emmanuelle. Das ist die Ordensfrau, die auch zu den beliebtesten Franzosen gezählt hat. Das ist ein Teil der Gesellschaft in Frankreich. Deswegen, obwohl er schon 2007 gestorben ist, hat er immer noch einen sehr guten Ruf. Bis zu diesem Bericht.

DOMRADIO.DE: Es sind vor allem die linken katholischen Kreise, also die Reformorientierten, für die er eine große Rolle gespielt hat. Was bedeutet denn jetzt diese Enthüllung dieses Skandals für diese Kreise?

Heneghan: Es gibt kein Eintreten und Austreten aus der Kirche wie in Deutschland. Sie gehen nicht mehr in die Kirche. Sie haben noch die christlichen Werte, aber Sie sind nicht mehr praktizierend. Es gibt auch Leute, die die Stiftung Abbé Pierre oder die Emmaus-Bewegung finanziell unterstützen. Für jene, die diese Bewegung unterstützen, macht es nicht viel aus. Es gab so viele Berichte über sexuelle Übergriffe von Priestern in den letzten 20 Jahren, dass das eigentlich ein Skandal vor ein paar Tagen bleiben wird, denke ich. Dann werden diese Leute weiter spenden. Das Bild von Abbé Pierre wird wahrscheinlich in den Hintergrund rücken. Die karitative Arbeit aber, diese Bewegung, wird weitergehen. 

Tom Heneghan

"Die Kirche ist arm und nicht sehr populär. Das heißt, dass sie immer in der Defensive ist."

DOMRADIO.DE: Wie Sie bereits erwähnten, ist es nicht der einzige Missbrauchsfall in den letzten Jahren. Zeitgleich gab es Meldungen, dass es Fälle in der konservativen Gemeinschaft San Martín gegeben hat. Also ist es ein größeres Problem der Kirche in Frankreich, dass man sich mit diesen Skandalen auseinandersetzen muss?

Tom Heneghan, katholischer Journalist (privat)
Tom Heneghan, katholischer Journalist / ( privat )

Heneghan: Ich weiß nicht, was der Prozentsatz ist von von sexuellem Tätern unter den Priestern im Vergleich zu anderen Ländern. Die Kirche ist arm und nicht sehr populär. Das heißt, dass sie immer in der Defensive ist. Und auch wenn etwas an die Öffentlichkeit kommt, hapert sie. Sie weiß nicht, wie sie reagieren sollen. 

Auch in diesem Fall hat die Bischofskonferenz nur eine ganz kurze Mitteilung gemacht. Sie haben geäußert, dass Abbé Pierre Großes geleistet hat. Auch hätten sie aber Scham und Mitgefühl für die Opfer seiner Tätigkeiten. Mehr nicht. Man hat auch den Vergleich gemacht zwischen der Reaktion der Emmaus-Bewegung, die prompt und sehr stark war, und die Reaktion der Kirche auf solche Fälle. Es gibt sogar einen Kardinal, es gibt viele Erzbischöfe, die darin verwickelt sind. Man sieht, dass sie sich schwer tun mit diesem Skandal.

Tom Heneghan

"Sie haben die Rechtsradikalen seit Jahren nicht mehr kritisiert. Dann würden sie mindestens 40 % ihrer Mitglieder in Schwierigkeiten bringen."

DOMRADIO.DE: Welche Stand hat die Kirche denn überhaupt noch in Frankreich? Viele Menschen haben sich abgewandt. Die Missbrauchsstudie vor ein paar Jahren meldete hunderttausend Fälle. Man könnte meinen, dass die Kirche keine Bedeutung mehr in Frankreich hat.

Heneghan: Ja und nein. Sie hat keine Bedeutung als gesellschaftliche Macht. Sie ist arm und auf die Spenden der Gläubigen angewiesen. Sie haben die Rechtsradikalen seit Jahren nicht mehr kritisiert. Dann würden sie mindestens 40 % ihrer Mitglieder in Schwierigkeiten bringen. Das ist nicht wie die Deutsche Bischofskonferenz. Bei Ihnen hat man die Kirchensteuer, die Priester sind gut bezahlt und die Bischöfe konnten zum Beispiel diesen Aufruf gegen den völkischen Nationalismus vor einigen Monaten machen. Das hat es in Frankreich seit 20 Jahren nicht mehr gegeben.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Kirche in Frankreich

Die katholische Kirche in Frankreich zählt zu den traditionsreichsten und geistesgeschichtlich wichtigsten in Europa. Marksteine ihrer reichen Geschichte sind etwa für das christliche Mittelalter die Taufe von Frankenkönig Chlodwig, die Reichskirche Karls des Großen ("Charlemagne"), die großen Ordensbewegungen und das "Zeitalter der Kathedralen"; weiter die Religionskriege des 16./17. Jahrhunderts, die nationalkirchliche Strömung des "Gallikanismus", die Aufklärung und die Französische Revolution. Zu Frankreichs Kulturerbe gehören ungezählte Klöster und Kathedralen von Weltrang.

Französische Fahne / © Rick Hawkins (shutterstock)
Quelle:
DR