DOMRADIO.DE: Alle warnen vor einem Flächenbrand. Wie ernst ist die Situation denn in Ihren Augen tatsächlich?
Simon Kuhl (Auslandsreferent missio Aachen): Die Situation ist so ernst wie zuletzt am Beginn des Kriegs am 7. Oktober. Eine ähnlich kritische Phase war die der direkten Auseinandersetzung zwischen Israel und Iran. Jetzt zu dem konkreten Vorfall: Es ist ganz schwer einzuschätzen, was nun geschehen wird.
Ich glaube weiterhin nicht, dass es zu einer massiven Bodenoffensive kommt, die vermutlich sehr verlustreich wäre, die sich bis zum Fluss Litani im Libanon ziehen würde. Möglicherweise werden die israelischen Streitkräfte strategische Anhöhen im besetzten Golan und darüber hinaus einnehmen, um sozusagen der Hisbollah die Sicht zu nehmen.
Israel hat eines der mächtigsten Raketenabwehrsysteme der Welt, den sogenannten Iron Dome. Die Hisbollah vermag es momentan aber, diesen zu unterfliegen mit lenkbaren Panzerabwehrraketen. Und wenn die israelische Armee nun wieder auf die Anhöhen käme, könnte dieser strategische Vorteil der Hisbollah wieder ausgeglichen werden.
Darüber hinaus könnte jetzt dieser schreckliche Vorfall in Madschdal Schams auch die Rechtfertigungen für einen begrenzten Einmarsch sein, der wiederum auch ein innenpolitisches Signal setzen würde.
DOMRADIO.DE: Wie sind Sie denn von missio im Libanon überhaupt präsent? Was können Ihre Projektpartner in dieser Situation überhaupt tun?
Kuhl: missio ist sehr aktiv im Nahen Osten und insbesondere im Libanon und unsere Projektarbeit stützt sich auf zwei Pfeiler. Zum einen die reguläre Projektarbeit mit bewährten Partnern, die wir teilweise schon seit Jahrzehnten haben. Zum Beispiel der Deutsche Verein vom Heiligen Land mit Sitz in Jerusalem, das Rossing Center und im Libanon zum Beispiel mit der CNEWA.
Der andere Pfeiler ist die sogenannte Akut- und Nothilfe. Die hat sich jetzt in den vergangenen Monaten vornehmlich auf Gaza konzentriert. Aber auch im Südlibanon hat missio ein Nothilfeprojekt aufgesetzt, wo christliche Familien unterstützt werden, den Süden des Landes zu verlassen Richtung Beirut.
Denn im Norden Israels wurde die Bevölkerung großteils evakuiert. Die israelische Regierung hat Hotels bereitgestellt, und die Menschen, die dort lebten, sind seit mehr als sieben Monaten nicht mehr in ihrer Heimat. Was natürlich aber auch immense Kosten für Israel verursacht.
Die geschäftsführende Regierung im Libanon hat solche Evakuierungen nicht veranlasst. Das heißt, die Menschen dort sind ohnehin ungeschützter als im Norden Israels. Das sind so die beiden großen Pfeiler, mit denen missio Aachen aktiv ist im Libanon.
DOMRADIO.DE: Wie kann denn jetzt überhaupt noch eine Deeskalation erreicht werden? Wer wären denn da mögliche Mediatoren?
Kuhl: In normalen Zeiten würde ich sagen: ausschließlich Druck der Amerikaner kann helfen. Der Einfluss der deutschen Bundesregierung ist sehr begrenzt. Nun stellt es sich allerdings so dar, dass Netanjahu den Ratschlägen der Amerikaner gegenüber mittlerweile resistent zu sein scheint.
Er macht offen deutlich, dass er eine Wahl von Donald Trump bevorzugen würde. Und Biden ist natürlich durch die aktuellen Entwicklungen um seinen eigenen Wahlkampf und seinen Rückzug auch arg geschwächt. Eine Deeskalation von außen gestaltet sich aktuell deshalb, glaube ich, leider schwierig.
DOMRADIO.DE: Was erwarten Sie sich denn von der Bundesregierung?
Kuhl: Sie hatten eben das Stichwort Mediatoren genannt. Und so ist die Bundesregierung auch immer aufgetreten. Das lief oft über geheime Kanäle, beispielsweise bei den Verhandlungen über Geiseln damals mit Gilad Schalit. Diese Kanäle sind aktuell aber eher von Katar und Ägypten besetzt. Insofern denke ich, dass sich die Bundesregierung eher darauf beschränkt, zum Frieden aufzurufen. Aber meine persönliche Erwartung ist da jetzt eher gering.
Das Interview führte Tim Helssen.