DOMRADIO.DE: Die Umfragen vor der Wahl hatten Maduros Gegenkandidaten Edmundo Gonzalez sehr, sehr weit vorne gesehen. Auch Nachwahlbefragungen scheinen Ähnliches zu ergeben. Wie überzeugend ist dann die Nachricht vom Wahlsieger Maduro?
Thomas Wieland (Abteilungsleiter Ausland bei Adveniat): Na ja, die offizielle Wahlbehörde hat bekanntgegeben, dass Maduro mit 51 % der Stimmen gewonnen habe. Das war fast schon absehbar, dass es so kommt. Vor allen Dingen, weil Maduro ja selbst darauf Wert gelegt hat, dass alle beteiligten Akteure in der Wahl diese offizielle Mitteilung akzeptieren sollen. Es gibt aber ein paar Sachen, die vielleicht diese Aussage in Zweifel ziehen könnten.
Als Adveniat-Projektpartner waren einbezogen in die Wahlbeobachtung vor Ort und es zeigt sich zum Beispiel, dass in der Rechnung der offiziellen Wahlbehörde 2.393.268 Stimmen fehlen. Wenn man die Prozentzahlen und die Wahlbeteiligung von 59 Prozent und das alles durchrechnet, dann ist in der offiziellen Mitteilung ein mathematischer Fehler, der nicht unerheblich ist, nämlich über zwei Millionen Stimmen, die da offensichtlich nicht ausgewiesen sind.
Das muss geklärt werden. Und dann gibt es die ganzen Begleitumstände, die darauf hinweisen, dass das Ergebnis wohl nicht so stimmt, wie es dargestellt wird. Laut Gesetz haben die Bürgerinnen und Bürger das Recht, in den Wahllokalen dabei zu sein, wenn die Stimmen ausgezählt werden.
30.000 Wahllokale gab es ungefähr bei dieser Wahl, und in vielen Wahllokalen berichten uns Partner, aber auch manche Medien, dass die Personen der Opposition nicht zugelassen wurden. Die wurden aus den Wahllokalen gedrängt, zum Teil mit Militär, zum Teil mit paramilitärischen Gruppen wurden sie daran gehindert reinzugehen.
Das heißt, es gibt manche Wahllokale, wo ausgezählt wurde, ohne dass die Bürgerinnen und Bürger zugelassen wurden. Ungeachtet dessen: Die Opposition legt großen Wert darauf, dass sie trotzdem einen guten Überblick hat. Sie sprechen davon, dass sie aus 40 Prozent der Wahllokale die Protokolle haben. Am Ende der Wahl wird ausgezählt, es wird ein Protokoll darüber erstellt. Und dort, wo die Opposition sein konnte, hat sie Kopien dieser Protokolle.
Und die rechnen in den nächsten Tagen nach und gucken, ob das Wahlergebnis so stimmen kann. Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass das Wahlergebnis nicht stimmt. Solide ohne Rechenfehler kann man davon ausgehen, dass die Opposition belegen wird, in welche Richtung das Wahlergebnis tatsächlich geht.
DOMRADIO.DE: Die Opposition will das Ergebnis anfechten. Sie hoffen dabei wohl auch aufs Militär. Wie schätzen Sie die Situation vor Ort in Venezuela jetzt ein?
Wieland: Die Frage ist wirklich: Wer reicht denn der Regierung die Hand, damit sie gesichtswahrend und sicher aus dieser Situation rauskommt? Manche setzen auf das Militär. Es gibt ungefähr 2.000 Generäle in Venezuela, aber die profitieren alle vom System. Ich weiß nicht, ob das Militär die Kraft ist, die da für die Veränderung sorgen wird. Es kann sein, aber das ist eher unwahrscheinlich.
Es ist auch die Frage, inwieweit die Nachbarländer da eine Rolle spielen und unterstützen können, dass die Regierung irgendwann das Feld räumt und so die ersten Schritte in Richtung eines Übergangs ermöglicht.
Da ist zum Beispiel Brasilien mit dem Präsidenten Lula, der sich eine ganze Zeit lang sehr positiv zu Maduro verhalten hat, allerdings in den letzten Tagens sich kritisch zum Vorgehen geäußert hat. Oder da ist Kolumbien mit Präsident Petro, der gegebenenfalls auch als vermittelnder Akteur eine Rolle spielen kann.
Das heißt, die Frage ist, wer Venezuela von außen unterstützt, damit diese Regierung, die dem Land so sehr schadet, den Platz verlässt und aus dem Präsidentenpalast auszieht.
DOMRADIO.DE: Venezuela ist ja nun wirklich ein reiches Land. Es hat Öl ohne Ende, da muss das Frustpotenzial bei den Menschen sehr groß sein. Schließlich hat ja Maduro mit seinem Regime dieses reiche Land komplett heruntergewirtschaftet, in bittere Armut gestürzt. Was bedeutet das für die Menschen, wenn Maduro jetzt einfach so weitermacht wie bisher?
Wieland: Ich habe mich da auch immer gewundert, wieso die Menschen relativ wenig auf die Straße gehen. Es gab einmal eine Episode, wo Demonstrationen vor allen Dingen von jungen Menschen zu sehen waren. Aber im großen Ganzen gibt es relativ wenig Mobilisierung, die sich in öffentlichen Protest äußert.
Wir haben auf einer Reise mal unsere Projektpartner gefragt, warum da keine Dynamik entsteht, wieso da nicht mehr Widerstand kommt. Man muss sich vorstellen, was es heißt, tagtäglich für das Lebensnotwendige einen enormen Aufwand betreiben zu müssen, also um Reis, Bohnen, Sprit zu bekommen, um sich zu mobilisieren, um Zugang zur Gesundheitsversorgung zu bekommen, zum Teil auch um überhaupt an Trinkwasser zu kommen.
Wir haben das erlebt, wie da über Freiwilligendienste auch der katholischen Kirche Menschen mit dem Nötigsten versorgt werden. Adveniat unterstützt diese Maßnahmen auch. Und wenn der Alltag so große Schwierigkeiten mit sich bringt, ist das Protestieren und Aufstehen sehr schwierig.
Ich empfinde die Menschen eher in so einer depressiven Stimmung und wenn sie überhaupt in die Aktion kommen, dann verlassen sie das Land. Das heißt für Maduro, der jetzt seit elf Jahren an der Macht ist: Obwohl das Land wirklich einen erstaunlichen Verfallsprozess hingelegt hat, kann er trotzdem bleiben, weil die Menschen einfach mit dem Alltag so befasst sind, dass sie für politische Veränderungen außer dem Stimmzettel wenig andere Möglichkeiten in der Hand haben.
DOMRADIO.DE: Was wird denn die Aufgabe der Kirche jetzt sei, nachdem Maduro sich zum Wahlsieger hat erklären lassen und es wahrscheinlich auch so bleiben wird?
Wieland: Was die katholische Kirche vor Ort leistet, ist ungeheuerlich. Es ist wirklich eine großartige Leistung, vor allen Dingen auch im Gesundheitsbereich, im Bereich der Versorgung mit Lebensmitteln. Da gibt es diese Struktur der Kirche über Pfarreien und Ordensgemeinschaften, die im Alltag unterstützt.
Eine andere Aufgabe ist, dass in den Kirchengemeinden und vor Ort auch Menschen unterschiedlichster politischer Richtungen zusammenkommen. Und in der Provinz gibt es durchaus auch regierungsnahe Parteifunktionäre, die trotzdem bemüht sind, den Alltag für die Menschen zu regeln. Und da gibt es auch Kooperationen mit den Pfarreien oder mit den Diözesen.
Das heißt, die Aufgabe der Kirche wird auch sein, für Zusammenhalt zu sorgen mit Blick auf das, was notwendig ist um politische Polarisierungen zu überwinden. Das ist auch im Hirtenwort der venezolanischen Bischöfe so zum Ausdruck gekommen, das sie vor der Wahl veröffentlicht hatten.
Ein dritter Punkt, der wichtig ist: Venezuela hat ja eine sehr eingeschränkte Pressefreiheit. Auch die "Deutsche Welle" wurde verboten, die dort in spanischer Sprache sendet, weil sie die Situation so dargestellt hat, wie es der Regierung nicht gefiel.
Ungeachtet dessen gibt es kirchliche Radiosender. Es gibt die katholische Universität Andrés Bello in Caracas, die Analysen erstellt. Es gibt den Thinktank der Jesuiten "Centro Gumilla".
Über diese Strukturen werden Material und Informationen zur Verfügung gestellt, damit die Menschen auch die Situation des Landes verstehen und vielleicht darauf aufbauend von der Basis her für eine langfristige Veränderung in Venezuela sorgen können.
Das Interview führte Oliver Kelch.