DOMRADIO.DE: Sie waren zuletzt im März dieses Jahres in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Was haben Sie konkret von der Not der Frauen und Mädchen mitbekommen?
Henrike Bittermann (Afghanistan Referentin bei Caritas international): Man merkt es allein, wenn man durch die Straßen Kabuls fährt. Ich kann mich nicht frei auf den Straßen bewegen. Dadurch wird deutlich, dass Frauen und Mädchen das Bild der Stadt nicht mehr prägen.
Sie sind in ihrer Bewegungsfreiheit extrem eingeschränkt, dürfen nur noch in Vollverschleierung und in männlicher Begleitung auf die Straße. Das wird auch regelmäßig von den Polizisten der Taliban geprüft. Das heißt, die Lage hat sich drastisch verschlechtert.
Wir versuchen weiterhin in unseren Projekten nur nach der Prämisse "mit Frauen für Frauen" zu arbeiten, aber merken, dass je nach Region Sachen funktionieren oder wir dann auch leider unsere Arbeit nicht fortführen können.
DOMRADIO.DE: Drei Jahre sind die Taliban an der Macht. Wie hat sich die Lage der Frauen und Mädchen in diesen vergangenen drei Jahren entwickelt?
Bittermann: Leider kann man sagen, dass sich in den letzten drei Jahren die Lage der Frauen und Mädchen immer weiter verschlechtert hat. Die Taliban haben regelmäßig Dekrete und Anweisungen herausgegeben, die sie in ihrem Leben und in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken.
Sie können nicht mehr oder nur noch bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen. Danach gibt es keine Schulbildung mehr. Sie können nicht mehr die Universität besuchen. Es gibt keine Möglichkeit mehr für NGOs, in bestimmten Bereichen zu arbeiten, nur noch im Gesundheits- und Bildungssektor.
Es wurden Beauty-Salons geschlossen, die von Frauen geführt waren. Das heißt die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen haben sich weiter eingeschränkt. Leider ist aktuell auch keine Besserung in Sicht.
DOMRADIO.DE: Caritas international unterhält ein Büro in Kabul mit 26 lokalen Mitarbeitenden. Sind darunter überhaupt noch Frauen?
Bittermann: Ja, wir arbeiten auch weiterhin in unserem Büro noch mit Frauen.
DOMRADIO.DE: Wie genau organisieren die lokalen Kräfte die Hilfen? Was können die überhaupt tun?
Bittermann: Wir arbeiten in unserem Büro oder von unserem Büro aus mit Partnerorganisationen in ganz Afghanistan. Das heißt, unser Büro ist eine Unterstützungsstruktur.
Wir sind eng im Kontakt mit den Partnern und unterstützen sie bei der Umsetzung der Projekte. Die liegen aktuell im Bereich der humanitären Hilfe, heißt die Verteilung von Essenspaketen, Hygienepaketen oder auch Winternothilfen.
Auf der anderen Seite versuchen wir Projekte zur verbesserten Versorgung mit Wasser voranzutreiben. Katastrophenschutz und der Fokus auf Gesundheitsprojekte gehören ebenfalls dazu.
Dabei betreuen wir zum Beispiel ein Mutter-Kind-Projekt, bei dem werdende Mütter oder auch junge Mütter unterstützt werden. Die Kindersterblichkeit in Afghanistan ist die weltweit größte. Andere Unterstützungsangebote haben die Frauen häufig nicht.
DOMRADIO.DE: Es heißt, dass immer mehr Frauen und Mädchen all das nicht mehr aushalten und Suizid begehen. Was wissen Sie darüber?
Bittermann: Das höre ich auch immer wieder. Ich kann Ihnen leider keine konkreten Zahlen nennen, weil es die einfach nicht gibt.
Aber ich höre immer wieder, dass zum einen gerade auch psychosoziale Unterstützung nicht genug vorhanden ist und zum anderen weiterhin so sehr durch die Gesellschaft und die Taliban stigmatisiert wird, dass diese Angebote nur schwer angenommen werden können.
DOMRADIO.DE: Wie ist es aktuell um die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten bestellt?
Bittermann: Der Humanitarian Response Plan in Afghanistan für 2024 hat dargestellt, dass aktuell 23,7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Über die Hälfte davon sind Frauen. Das sind circa zwei Drittel des ganzen Landes.
Ohne die Unterstützung von Hilfsorganisationen würden die Menschen hungern oder noch mehr hungern, als sie es schon tun. Denn die Unterstützungslage geht zurück. Es gibt nicht mehr genug, um alle Menschen komplett versorgen zu können.
Neben dieser generellen schwierigen Lage im Land, ist das Land auch von Naturkatastrophen gebeutelt. Wir hatten gerade erst wieder eine Flutsituation. Im ganzen Land herrscht Dürre. Das Erdbeben letztes Jahr in Herat hat viele Menschenleben gekostet. Das Land ist enorm unter Stress und Druck.
DOMRADIO.DE: Gibt es überhaupt positive Entwicklungen seit diesem schicksalhaften 15. August vor drei Jahren?
Bittermann: Die Arbeit für internationale Organisationen hat sich teilweise verbessert, weil sich die Sicherheitslage generell verbessert hat.
So können wir in Regionen arbeiten, die wir vorher nicht erreicht haben und umkämpft waren. Das würde ich als eine positive Entwicklung darstellen können.
DOMRADIO.DE: Humanitäre Hilfe für Menschen in einem extrem autoritär geführten Land gestaltet sich naturgemäß schwierig. Inwieweit wäre eine bessere Versorgung der Afghaninnen und Afghanen auch im Eigeninteresse des Westens?
Bittermann: Für viele Afghaninnen und Afghanen ist Flucht weiterhin die einzige Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes, sicheres Leben für sich und die Familien. Die nehmen häufig die Flucht mit auf sich.
Eine bessere Versorgung kann ein erster Grundstein dafür sein, dass Perspektiven im eigenen Land gesehen werden. Aber auch viele weitere Punkte spielen dort eine Rolle. Deswegen kann dies nur die Basis von anderen Sachen sein, die nachfolgen müssen.
DOMRADIO.DE: Warum es wichtig, Afghanistan nicht allein zu lassen?
Bittermann: Die Afghaninnen und Afghanen sind weiterhin auf unsere Unterstützung angewiesen. Die Situation in der Welt fühlt sich immer schwerer und schwieriger an, aber auch in Afghanistan sollten wir nicht wegschauen.
Denn gerade Frauen und Mädchen haben häufig nur die Hoffnung oder die Perspektive, dass der Westen sie nicht vergessen hat, weiter für sie da ist und sie nicht zurücklässt. Deswegen ist Afghanistan auch weiterhin für Caritas international im Fokus.
Das Interview führte Hilde Regeniter.