Jesuit Mertes fordert Umdenken im Schulalltag

"Wir brauchen persönliche Beziehungen"

Das deutsche Bildungssystem steckt in der Krise. Was tun? Statt vor allem über die Digitalisierung der Klassenzimmer zu diskutieren, sollte man sich mehr auf das Ideal der Herzensbildung besinnen, sagt der Jesuitenpater Klaus Mertes.

Autor/in:
Hilde Regeniter
Symbolbild Lehrerin interagiert mit Schülern im Unterricht / © BalanceFormCreative (shutterstock)
Symbolbild Lehrerin interagiert mit Schülern im Unterricht / © BalanceFormCreative ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Ihr neues Buch ist ein Plädoyer für eine Kultur der Menschlichkeit in der Bildung. Zentral ist dabei der Begriff der Herzensbildung. Wie definieren Sie den?

Pater Klaus Mertes (Jesuit, Autor und Gymnasiallehrer): Ich lehne den Begriff der Erziehung in diesem Zusammenhang ab. Man kann nicht das Herz erziehen oder bilden. Das würde dann sofort autoritär werden. Mir geht es darum, das Herz als einen Ort der Wahrnehmung zu begreifen, die ich immer bewusst gestalten kann und fokussieren kann. 

Pater Klaus Mertes / © Gordon Welters (KNA)
Pater Klaus Mertes / © Gordon Welters ( KNA )

Nehmen wir den barmherzigen Samariter als Beispiel. Der geht am Wegesrand vorbei, sieht, bleibt stehen und hilft, wenn die anderen beiden vorbeigehen. Warum ist das so? Was ist der Unterschied? 

Ich glaube, das hängt mit Haltungen zusammen. Diese Haltungen werden durch Kultur, durch Gewohnheit erworben. Die große Frage ist: Kann man das auch erlernen oder kann Schule dazu einen Beitrag leisten? 

DOMRADIO.DE: Wie kann man an den Schulen in Deutschland Herz und Verstand sinnvoll miteinander in Einklang bringen? 

Pater Mertes: Dadurch, dass wir Erlebnisse ermöglichen, und zwar nicht, um bestimmte Ziele zu erreichen, also zum Beispiel gemeinsam musizieren. Da lernt man unglaublich viele Dinge, die fürs Leben wichtig sind: aufeinander hören, Lampenfieber überwinden, Durststrecken durchhalten und so weiter.

Pater Mertes

"Wenn man sich nur bildet, um Wissen zu erwerben, dann erwirbt man es nicht."

Aber wenn man sich nur bildet, um Wissen zu erwerben, dann erwirbt man es nicht. Da liegt eine tiefe Paradoxie in der Herzensbildung. Herzensbildung ergibt sich und wächst aus gemeinsamen Erlebnissen und Erfahrungen, die ihren Wert in sich selbst haben. Und die gehören deshalb auch zur Schule dazu. 

DOMRADIO.DE: Sie beklagen also eine utilitaristische Perspektive auf die Bildung. Dass also von Anfang an immer schon mitgedacht wird, was ein bestimmtes Wissen oder eine bestimmte Fähigkeit am Ende bringen soll. Was ist daran so schlecht? 

Pater Mertes: Daran ist schwierig, dass Wissen allein noch nicht das Herz bildet. Mein Beispiel ist immer, dass sich Martin Heidegger von den Nazis hat reinlegen lassen und der angeblich ungebildete Arbeiter Georg Elser nicht. 

Pater Mertes

"Wissen allein bildet das Herz nicht."

Worin bestand denn da der Unterschied? Ganz offensichtlich gibt es eine Sensibilität, die tiefer liegt und die man nicht einfach durch Wissen bilden kann. Denn Wissen ist etwas Abfragbares, hier aber geht es um etwas viel, viel Tieferes. 

Und das führt zu den Fragen des Menschenbildes, darüber, wie überhaupt Haltungen im Menschen wachsen können, ohne dass sie von außen durch erzieherische Maßnahmen zielorientiert gesteuert werden. 

DOMRADIO.DE: Sie warnen auch ausdrücklich davor, Bildung zu sehr an den Forderungen des Marktes auszurichten. Warum? 

Pater Mertes: Weil der Markt vom Konkurrenzprinzip lebt. Aber es geht bei der Bildung ja nicht darum, der Beste zu sein. Nach welchen Kriterien soll man das beurteilen?

Nach dem Kriterium des Marktes ist es natürlich der maximale Profit, der entscheidet. Ich bin der Meinung, dass der Markt natürlich unverzichtbar und wichtig ist. 

Aber wenn der Markt zum Prinzip der Bildung und des Erfolgs von Bildung wird, dann setzt er eben die Kriterien. Produziert ein solches Bildungssystem die Haltungen, die wir wollen? 

DOMRADIO.DE: Ganz zentral ist für Sie die Beziehung von Schülerinnen und Schülern zu ihren Lehrerinnen und Lehrern. Sie begründen diese Sichtweise auch mit Lehren der Corona-Pandemie. Inwiefern? 

Pater Mertes: Die Pandemie hat gezeigt, was alles fehlt, wenn Unterricht auf digitale Formate reduziert wird, zumal in einer Notsituation wie Corona. Da hat sich deutlich gezeigt, wie viel Kindern und Jugendlichen fehlt, wenn sie nur am Computer sitzen und lernen. Denn ganz entscheidend für die Bildung ist das Leben in Beziehungen. 

Da geht es um analoge Begegnungen, wie den Blick des Lehrers auf die Schüler, denjenigen der Schüler auf die Lehrer und auch die Blicke der Schüler zueinander. Es geht um Gefühle, die in einer Lerngruppe eine Rolle spielen. 

Schulbücher im Klassenzimmer der Gesamtschule am Bildungscampus Köln-Kalk / © Carina Quirmbach (EBC)
Schulbücher im Klassenzimmer der Gesamtschule am Bildungscampus Köln-Kalk / © Carina Quirmbach ( EBC )

Solche Dinge sind nicht durch Maschinen vermittelbar. Insofern ist das Problem, das sich während der Pandemie gezeigt hat, nicht nur dadurch zu lösen, dass wir digital besser ausstatten. 

Denn damit ist doch lange noch nicht das erreicht, was wir für Bildung brauchen, nämlich eine persönliche Beziehung. Studien besagen, dass 95 Prozent des Bildungserfolgs sich nicht an Lernmethode und Lernmedium entscheiden, sondern an der Qualität der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern. Da bewegen wir uns auf der Ebene der analogen Begegnung.

DOMRADIO.DE: Herzensbildung und Bildung, die mit Schulnoten bewertet wird, stehen oft in einem krassen Gegensatz. Wie ließe sich der überbrücken? 

Pater Mertes: Bewertungen sind auch wichtig. Ebenso Leistung. Es muss auch diese Dimension der Bewertung geben. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Das bedeutet aber nicht, dass man Bildungsprozesse auf das, was bewertbar ist, reduzieren darf. Darum geht es mir. 

Aufmerksamkeit für andere Menschen, Sensibilität auch für Anliegen von anderen sind ebenfalls wichtig. Das sind Dinge, die man zwar auf der theoretischen Ebene abfragen kann, aber die Praxis der Kommunikation in der Schule selbst ist etwas ganz anderes.

Da findet ja ebenfalls Bildung statt, auf eine letztlich nicht steuerbare Weise, aber hoffentlich auf eine Weise, in der man einiges praktizieren und einüben kann. 

DOMRADIO.DE: Wir lesen immer wieder, dass bundesweit physische und psychische Gewalt unter den Schülerinnen und Schülern zunimmt. Ist das auch ein Zeichen, dass es an Herzensbildung mangelt? 

Pater Mertes: Die Kommunikation im Aggressionsmodus verstärkt sich immer mehr, und zwar von beiden Seiten. Das hängt zutiefst damit zusammen, dass wir nicht mehr zuhören. 

Barmherzig – Der gute Samariter / © Vincent van Gogh
Barmherzig – Der gute Samariter / © Vincent van Gogh

Nehmen wir noch mal das Beispiel vom barmherzigen Samariter, der sieht, man könnte auch sagen, der hört und lässt sich bewegen. Die anderen sehen oder hören und lassen sich nicht bewegen und machen einfach weiter. Da ist der entscheidende Unterschied. 

Pater Mertes

"Die Frage ist, ob ich überhaupt ein Interesse daran habe, in der Begegnung mit anderen Menschen etwas für mich selbst zu begreifen."

Die Frage ist, ob ich überhaupt ein Interesse daran habe, in der Begegnung mit anderen Menschen etwas für mich selbst zu begreifen. Wenn der andere aber immer nur der Feind ist oder der oder die Kommunikation nur darin besteht, mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger Recht zu haben, dann steigert das den Aggressionsmodus. 

DOMRADIO.DE: Um Herzensbildung zu lernen, ziehen Sie als Jesuit die Lehren Ihres Ordensgründers Ignatius von Loyola heran, seine berühmten Exerzitien. Welche Prinzipien darin helfen denn bei der Herzensbildung? 

Pater Mertes: Ich habe das in drei Punkte aufgeteilt. Der erste Punkt wäre die Einübung von Dankbarkeit. Als Lehrer in der Schule habe ich meine Schüler am Ende einer Stunde immer gefragt, was sie daran spannend fanden und was sie daraus für die Zukunft mitnehmen. Eine säkulare Form von Dankbarkeit also.

Pater Mertes

"Um das Hören zu schulen, ist Stille etwas ganz wichtiges."

Das ist sehr wichtig und hilfreich, weil es das Hören schult. Dafür ist die Stille ganz, ganz wichtig. Stille Übungen habe ich immer sehr gerne in der Schule gemacht. Ich habe sie im Unterricht ritualisiert. 

Darstellung des Heiligen Ignatius von Loyola im Petersdom / © Vasilii L (shutterstock)
Darstellung des Heiligen Ignatius von Loyola im Petersdom / © Vasilii L ( shutterstock )

Heute wenden sich Schülerinnen und Schüler, die bei mir Abitur gemacht haben, an mich und sagen, dass dies für sie zu einer Lebenshaltung geworden sei. Wenn Sie etwas hören, sind sie erst mal kurz still und bedenken, was sie gehört haben. Erst dann entscheiden sie, ob sie darauf reagieren oder nicht. 

Der zweite Punkt ist dann, mit Ignatius gedacht, die Bereitschaft, sich durch das, was der andere sagt, verändern zu lassen. 

Die Frage lautet: Muss ich meine Identität immer gegen die Infragestellung, die in einer Situation für mich liegt, verteidigen oder kann ich mich öffnen? Ich kann mich dann öffnen, wenn ich stabil in meinem Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein bin. Das kann aufgrund der reflektierten Dankbarkeit über alles das, was ich empfangen habe, entstehen. 

Pater Mertes

"Jeder Mensch muss in seinem Leben Entscheidungen treffen."

Und dann kommt die dritte Dimension hinein. In den Exerzitien wäre das der Ruf, also der Schritt, Entscheidungen zu wagen. Jeder Mensch muss in seinem Leben Entscheidungen treffen. 

Oft macht man sich mit Entscheidungen Feinde. Wenn sich etwa ein Schüler in einer Mobbingsituation entscheidet aufzustehen und zu sagen: "Hört auf mit dem Mobbing!", dann wird er vielleicht selbst gemobbt. 

Um dazu ein Verhältnis zu entwickeln, sind diese drei Stufen der Einübung der Dankbarkeit, der Einübung des Umdenkens und des Entscheidens elementar. Das ist meines Erachtens der inhaltliche Kern von Herzensbildung. Ganz einfach. 

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Jesuitenorden

Die Jesuiten sind die größte männliche Ordensgemeinschaft der katholischen Kirche. Gründer der "Gesellschaft Jesu", so die offizielle Bezeichnung in Anlehnung an den lateinischen Namen "Societas Jesu" (SJ), ist der Spanier Ignatius von Loyola (1491-1556).

Jesuiten sind keine Mönche; sie führen kein Klosterleben und tragen keine Ordenskleidung. Neben Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam verpflichten sie sich in einem vierten Gelübde zu besonderem Gehorsam gegenüber dem Papst. Zudem legen sie ein Zusatzversprechen ab, nicht nach kirchlichen Ämtern zu streben.

Iesum Habemus Socium ("Wir haben Jesus als Gefährten") - das Emblem der Jesuiten / © Markian Pankiv (shutterstock)
Iesum Habemus Socium ("Wir haben Jesus als Gefährten") - das Emblem der Jesuiten / © Markian Pankiv ( shutterstock )
Quelle:
DR