DOMRADIO.DE: Herr Professor Sautermeister, dem Lebensschutz kommt in der christlichen Ethik und im katholischen Glauben eine große Bedeutung zu. Das menschliche Leben ist ein fundamentaler Wert, den es zu schützen und zu erhalten gibt. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund grundsätzlich die Möglichkeiten der Transplantationsmedizin?
Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister (Professor für Moraltheologie und früherer Dekan der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn): Die Transplantationsmedizin stellt eine medizinische Errungenschaft dar, die bereits vielen Menschen geholfen hat, die ansonsten aufgrund einer schweren Organerkrankung oder aufgrund von Organversagen gestorben wären.
Am häufigsten werden Nieren transplantiert, dann Leber, Herz, und Lunge, seltener auch Bauchspeicheldrüse, Darm sowie andere Organe und Gewebe. Dank der modernen Transplantationsmedizin ist es möglich, menschliches Leben zu retten beziehungsweise signifikant zu verlängern und die Lebensqualität zu verbessern. Daher spricht das kirchliche Lehramt auch von einem hochrangigen Akt der Nächstenliebe, wenn jemand bereit ist, freiwillig seine Organe zu spenden.
DOMRADIO.DE: Gilt diese positive moralische Würdigung für alle Arten von Organspende?
Sautermeister: Grundsätzlich ja, wenn die Organspende freiwillig erfolgt und als Gabe geschieht, also nicht in einem kommerziellen Sinne oder eigennützig erfolgt. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um eine Lebendspende oder postmortale Spende handelt.
Lebendspenden sind bei Nieren möglich, weil jeder Mensch zwei Nieren besitzt, und bei der Leber, da sich die Leber regenerieren kann, wenn ein Teil von ihr zu Transplantationszwecken entfernt wird.
Bei den anderen Organen ist nur eine postmortale Organspende möglich. Voraussetzung ist auch hier die freie Einwilligung zu Lebzeiten, dass keine materiellen Vorteile daraus gezogen werden und dass die Person tot ist.
DOMRADIO.DE: Und dennoch gibt es auch kritische Stimmen, die im Namen des Lebensschutzes Zweifel an der Transplantationsmedizin hegen. Ist das nicht ein Widerspruch zu dem soeben Gesagtem?
Sautermeister: Diese Zweifel beziehen sich auf die Frage, nach welchem Kriterium jemand als tot gilt, um als Organspender in Frage zu kommen. Die postmortale Organspende bezieht sich ja auf Verstorbene, wie das Adjektiv "postmortal" bereits sagt.
In Deutschland gilt das Hirntod-Kriterium, um festzustellen, wann jemand tot ist. Die Gesamtfunktion von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm müssen dazu irreversibel ausgefallen sein. Daher spricht man noch treffender vom Ganzhirntod.
Das deutsche Transplantationsgesetz hat der Bundesärztekammer die Richtlinienkompetenz übertragen, nach welchen Verfahren der Ganzhirntod festgestellt werden soll. So will der Gesetzgeber die Todesfeststellung gemäß dem Stand der medizinischen Wissenschaft sicherstellen.
Das Hirntodkriterium ist international anerkannt und ist wissenschaftlicher Standard in der Intensivmedizin. Wer mit Berufung auf den Lebensschutz die Transplantationsmedizin kritisiert, stellt also grundsätzlich das Hirntod-Kriterium in Frage und behauptet, dass mit der Organentnahme der Mensch getötet würde.
DOMRADIO.DE: Das ist ein schwerwiegender Einwand. Können Sie die dahinter stehende Problematik erläutern?
Sautermeister: Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es zuerst einmal wichtig zu unterscheiden zwischen der Definition oder dem Konzept des Hirntods, dem Hirntod-Kriterium und der Hirntod-Diagnostik.
Das Hirntod-Konzept stellt eine Bestimmung dar, mit der das anthropologische Verständnis vom Menschen, der verstorben ist, für die Medizin übersetzt wird. Es handelt sich also um einen biologischen Verstehenszugang, der im Kontext der Intensivmedizin Orientierung gibt.
Von dieser Hirntod-Definition leitet sich das Hirntod-Kriterium ab, mit dem man bestimmt, ob der Hirntod eines Menschen vorliegt. Und mittels verschiedener Untersuchungen, der Hirntod-Diagnostik, wird festgestellt, ob das Hirntod-Kriterium erfüllt ist und ob man schließlich medizinisch sagen kann, dass ein Mensch tot ist.
Man darf nun nicht den Fehler machen, das philosophisch-theologische Verständnis vom Tod als Ereignis einfach mit dem biologischen Verständnis vom Tod als Prozess zu identifizieren. Es handelt sich vielmehr um zwei verschiedene Verstehensweisen.
DOMRADIO.DE: Was heißt das konkret?
Sautermeister: Verschiedene Phänomene irritieren das Hirntod-Konzept. So zeigt sich etwa durch immer feinere Diagnoseinstrumente, dass es nach dem Eintreten des Hirntods noch Überbleibsel ganz schwacher neurologischer Restaktivität gibt. Auch sind noch Prozesse körperlicher Wundheilung und Nagelwachstum möglich.
Bei fortgesetzter intensivmedizinischer Behandlung kann es ferner zu unwillkürlichen Bewegungen von Armen, Beinen und Rumpf kommen. Diese ungerichteten Bewegungen werden jedoch von Rückenmarksreflexen hervorgerufen, die nicht mehr durch Funktionen des Hirnstamms gehemmt werden können.
Aufsehen erregte auch, dass mithilfe eines maximalen intensivmedizinischen Aufwands – wenn auch äußerst selten – es gelingt, die Schwangerschaft einer hirntoten Frau bis zur Geburt fortzusetzen. Diese und weitere Phänomene können zu der Frage verleiten, ob das Hirntod-Kriterium auch wirklich den Tod eines Menschen anzeigt – zumal hirntote Menschen nicht als tot erscheinen, solange sie noch intensivmedizinisch behandelt werden. Darum sind manche besorgt, dass durch die postmortale Organentnahme der Mensch überhaupt erst getötet würde.
DOMRADIO.DE: Nun besagt aber die gesetzliche und medizinische Regelung etwas anderes, nämlich dass mit dem Hirntod-Kriterium der Tod eines Menschen festgestellt wird.
Sautermeister: Genau. Denn gegen die These, dass der Mensch aufgrund solcher physiologischen Phänomene noch nicht tot sei, lässt sich einwenden: Der Mensch ist ein leibseelisches Wesen und kann nicht eindimensional auf letzte physiologische Prozesse reduziert werden. Vielmehr ist das Absterben des menschlichen Organismus ein Prozess, der auch dann noch andauert, wenn ein Mensch längst tot ist. Das liegt daran, dass die Zerfallsprozesse von Zellen, Geweben und Organen unterschiedlich schnell oder langsam ablaufen.
All die Phänomene, die gegen das Hirntod-Kriterium angeführt werden, lassen sich somit naturwissenschaftlich erklären und entsprechende Einwände entkräften. Bei diagnostisch korrekter Hirntodfeststellung gibt es keinen einzigen wissenschaftlich belegten Fall, dass jemand wieder zurückgekehrt ist ins Leben.
DOMRADIO.DE: Wie lässt sich dann anthropologisch das Hirntod-Kriterium plausibilisieren?
Sautermeister: Was lebensweltlich als gewiss erscheint, wird im intensivmedizinischen Kontext verunsichert. Gerade deshalb benötigen wir Kriterien, um zu verantwortlichen Entscheidungen zu kommen.
Gemäß der Bundesärztekammer bezieht sich das Ganzhirntod-Kriterium sowohl auf den irreversiblen Ausfall der Integrationsfunktion des Gehirns für den gesamten Organismus als auch zugleich auf die fundamentale Bedeutung des Gehirns für die Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit des Menschen sowie für die Anpassung des Gesamtorganismus an die Umwelt wie auch für dessen Abgrenzung von der Umwelt; außerdem ist das Gehirn zuständig für die Koordination und Selbststeuerung.
Wenn all diese neurologischen Funktionen aufgrund eines irreversiblen Hirnausfalls unwiederbringlich erloschen sind, dann kann man einen Menschen gemäß dem medizinischen Ganzhirntod-Kriterium als tot ansehen. Das gilt ganz unabhängig von der Transplantationsmedizin.
DOMRADIO.DE: Manche Skeptiker behaupten ja, dass das Hirntod-Kriterium deshalb aufgestellt wurde, um möglichst viele Organe zu gewinnen. Können Sie der These zustimmen, der Hirntod diene vor allem der Rechtfertigung für die Organentnahme?
Sautermeister: Leider ist immer wieder diese Verdächtigung zu hören. Sie lässt sich aber leicht entkräften, was medizinhistorische Studien zeigen. Denn die Festlegung, wie sich medizinisch der Zeitpunkt des Todes bestimmen lässt und an welchen Zeichen man diesen erkennen kann, wurde aufgrund der intensivmedizinischen Möglichkeiten nötig.
Mittels medizinischer Apparate kann die Beatmung und das Herz-Kreislauf-System am Laufen gehalten werden, so dass sich die Frage stellte, wann es legitim ist, die Apparate abzuschalten, die die Atmung und den Kreislauf ersetzen. Da die mit dem Hirntod-Kriterium verbundene Grenzziehung zwischen Leben und Tod auch für die Transplantationsmedizin relevant ist, ist es naheliegend, dass bereits bei der Festlegung dieses Kriteriums auch dessen Bedeutung für die Organtransplantation mitgesehen wurde.
DOMRADIO.DE: Wie steht das kirchliche Lehramt zum Hirntod-Kriterium?
Sautermeister: Im Jahr 2015 haben sich die deutschen Bischöfe die Position der Glaubenskommission zu eigen gemacht und gemäß dem Stand der Wissenschaft das Hirntod-Kriterium als "das beste und sicherste Kriterium für die Feststellung des Todes eines Menschen" bekräftigt.
Bis heute hat sich daran nichts geändert und ich sehe keinen wissenschaftlichen Anlass, diese Sichtweise grundlegend zu revidieren. Das kirchliche Lehramt tut gut daran, dass es sich nicht konkreter dazu äußert. Denn erstens hat es keine genuin medizinisch-naturwissenschaftliche Kompetenz, sondern ist auf die Erkenntnisse der Wissenschaften angewiesen. Und zweitens müsste sich das Lehramt immer korrigieren, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse eine Überarbeitung erforderlich machen würden.
Wenn also die Organspende als Akt der Nächstenliebe gewürdigt wird, ohne damit eine christliche Pflicht zu formulieren, wird deutlich: Anderen Menschen auch im Tod durch die Bereitschaft zur Organspende zu helfen, ist Ausdruck der fundamentalen Wertschätzung des menschlichen Lebens.
Zugleich kann jemand auch gute Gründe haben, nicht in eine Organspende einzuwilligen. Auch das ist zu respektieren. Den Lebensschutz gegen das Hirntod-Konzept in Stellung zu bringen, kann jedoch nicht überzeugen.
Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen.