Terrorismus-Forscher Peter R. Neumann sieht nach Solingen und kurz vor dem ersten Jahrestag des Hamas-Angriffs auf Israel die Gefahr weiterer Anschläge. "Das ist Teil eines globalen Religionskrieges", sagte er im Interview der "Welt" (Montag).
Die Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 seien ein "riesiger Motivationsschub" für Dschihadisten weltweit gewesen, fügte der Politikwissenschaftler vom Londoner King"s College hinzu.
Die wichtigste Erkenntnis aus dem Messerattentat von Solingen sei, "dass wir möglicherweise am Beginn einer neuen Welle stehen", ergänzte Neumann. In den letzten elf Monaten hätten sich die dschihadistischen Anschlagsversuche und durchgeführten Attentate vervielfacht: "Und Solingen ist hoffentlich der Weckruf für alle, dass dieses Problem wieder ganz besondere Aufmerksamkeit erfordert. Der Dschihadismus ist wahrscheinlich wieder die größte terroristische Gefahr für Deutschland."
Propaganda soll Nachahmer motivieren
Weltweit, so der Fachmann weiter, schlachte der IS den 7. Oktober und seine Folgen propagandistisch aus und sage seinen Unterstützern:
"Wenn ihr für Palästina und gegen Israel kämpfen wollt, dann müsst ihr euch uns anschließen. Denn im Prinzip ist das alles Teil eines globalen Religionskrieges. Das kam auch in der Videobotschaft zum Ausdruck, die vom IS nach dem Anschlag von Solingen veröffentlicht wurde, wo der Attentäter gesagt hat, er macht das als Rache für Palästina."
Der Anschlag von Solingen passe genau zur Strategie des IS, betonte der Terrorexperte: "Sie sagen ihren Leuten: Schlagt dort zu, tötet sie dort, wo ihr mit ihnen zusammentrefft." Das trage auch zum "gewünschten Terroreffekt des IS" bei, dass jeder das Gefühl habe, es könne überall passieren. Zudem sollten und könnten solche Anschläge immer auch Unterstützer motivieren und zu weiteren Anschlägen inspirieren.
Junge Täter und Radikalisierung über Internet
Neumann fügte außerdem hinzu, zwei Drittel der Festgenommenen in Westeuropa in den vergangenen Monaten seien Minderjährige oder Teenager zwischen 13 und 19 gewesen. Darüber hinaus verlagere sich die Radikalisierung immer mehr ins Internet: "Es braucht keine radikalen Moscheen oder Offline-Influencer mehr. Darauf müssen sich die Sicherheitsbehörden einstellen. Wenn man Polizisten undercover in der radikalen Moschee vor Ort hat, dann muss man noch mehr virtuelle Agenten haben in den virtuellen Räumen, wo sich Dschihadisten treffen. Wir brauchen Leute, die sich gerade auch mit den sozialen Medien auskennen."
Der Fachmann forderte weiter, die Frühwarnsysteme in Flüchtlingsunterkünften auszubauen. Mitarbeitende dort müssten noch stärker sensibilisiert werden und Auffälligkeiten melden. Denn meist gebe es Hinweise auf Verhaltensänderungen, wenn sich jemand radikalisiert. Präventionsanbieter müssten sich außerdem verstärkt auch um diese Zielgruppe der Flüchtlinge kümmern, die schwer erreichbar sind.