Russischer Autor bezweifelt Zusammenbruch des Putin-Regimes

"Solange die Menschen an ihren Staat glauben"

Welche Rolle spielt die russisch-orthodoxe Kirche im System Wladimir Putins? Neben der Armee ist sie eine tragende Säule der Gesellschaft, sagt der Journalist und Buchautor Vladimir Esipov. Der Glaube an den Staat sei daher zentral.

Autor/in:
Jan Hendrik Stens
Kreml in Moskau / © Andrey Zyk (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Lieben Sie Ihr Heimatland? 

Vladimir Esipov (privat)
Vladimir Esipov / ( privat )

Vladimir Esipov (Journalist und Buchautor): Ja schon. Es ist meine Heimat und es wird meine Heimat bleiben. Trotz allem, was da jetzt passiert, und trotz allem ohne Zweifel schrecklichem, was mit der Ukraine passiert und in der Ukraine passiert, wird es auch meine Heimat bleiben. 

DOMRADIO.DE: Wann begann Ihre Heimat, Ihnen fremd zu werden? 

Esipov: Ich hatte einen Moment gehabt, wo ich realisiert habe, dass ich mein Land sehr mag, aber dass ich in meinem Land ein großes Problem habe. Ich kann nämlich meinen Beruf da nicht mehr ausüben. Als 2015 die Zeitschrift GEO Russland, die russische Lizenzausgabe des GEO Magazins, die ich als Chefredakteur geleitet habe, eingestellt wurde, erlebte ich den Moment, wo mir klar wurde, dass ich alles in meinem Land werden kann und sein kann, aber nur nicht Journalist im westlichen Sinne des Wortes.

Vladimir Esipov

"Das war ein total komisches Gefühl, weil ich das Land sehr mochte, aber dort nicht arbeiten konnte."

Ich konnte nicht als freier Journalist arbeiten, wie man es hier überall gewohnt ist. Das war ein total komisches Gefühl, weil ich das Land sehr mochte, aber dort nicht arbeiten konnte. Da begann dieser Prozess des leichten Entfremdens, weil ich einen Job im Ausland angenommen habe. Ich bin zur Deutschen Welle nach Berlin gegangen, und jetzt bin ich da auch fest angestellt. Das war wohl der Beginn unserer leichten Entfremdung. 

DOMRADIO.DE: Was stört Russland an der westlichen Lebensweise? 

Esipov: Da sind diese Freiheiten, die man hier so gar nicht als Freiheiten wahrnimmt. Die sind in der Luft und völlig normal: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, alles Mögliche an Freiheit, gar nicht zu sprechen von sexuellen Freiheiten, die man hier auch in dieser Stadt ganz massiv auslebt und zu denen man auch steht. Das ist ein Teil dieser Identität in der Stadt Köln.

Dieser Gedanke, dass ein Mensch in seinem Leben, in seiner Freizeit, in seinem Privaten frei sein kann, der stört. Denn daraus folgt, dass man auch politische Freiheiten von der Regierung einfordern kann, dass man vielleicht eine politische Partizipation verlangt. Wenn aus diesen privaten Freiheiten der Wunsch nach einer politischen Freiheit wachsen könnte, erlebt man das als gefährdend oder gefährlich für den Staat.

1991 hat die Sowjetunion diesen Kollaps erlebt, wo ein Land in 15 Länder zerfallen ist. Seitdem sitzt bei manchen Menschen in der russischen Elite im Nacken, dass sich so etwas mit Russland wiederholen könnte. Ich teile diese Ängste nicht, aber die sind da und die wachsen aus den dekadenten westlichen Gedanken der Freiheit, wie man das in Teilen der russischen Gesellschaft sieht. Daher existiert diese nicht mehr diffuse, sondern ziemlich klare, offene Angst. 

DOMRADIO.DE: Gibt es überhaupt noch eine Opposition in Russland? 

Esipov: Wahrscheinlich. Man sieht sie nur nicht, man hört sie nicht, man erlebt sie nicht. Alle, die sich zur Opposition gezählt haben, halten die Füße unter dem Tisch und sind ganz still, weil es einfach gefährlich ist, Opposition zu sein und in einer Kriegssituation gegen die Regierung zu sprechen. Denn das Land ist ja im Krieg und das ist einfach eine falsche Zeit für irgendeine Opposition. Die Gesellschaft rückt zusammen. Man stellt sich um die Fahne, wie es dieses englische Sprichwort ausdrückt.

Alles, was nach Opposition ausgeschaut hat, wurde schon zu Beginn dieses Krieges niedergewalzt, was einfach aus der Kriegslogik folgt. Ich würde jetzt nicht von irgendeiner nennenswerten Opposition sprechen. Eine Opposition im westlichen Sinne, also eine Opposition, wie man sie in Deutschland kennt, hat es da auch schon seit Jahren nicht mehr gegeben. 

Pussy Riots in Moskauer Kathedrale / © bup
Pussy Riots in Moskauer Kathedrale / © bup

DOMRADIO.DE: 2012 kam es in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale zu einem Zwischenfall. Eine weibliche Punkband, Pussy Riot, sang dort ein Lied mit dem Inhalt: "Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin." – Sie schreiben in Ihrem Buch, dass dieser Auftritt zur Spaltung und damit zur Schwächung der Opposition zu Putin geführt hat. War dieser Auftritt also falsch? 

Vladimir Esipov

"Aus meiner Sicht war dieser Auftritt der Nadelstich, der den großen Luftballon der Protestbewegung komplett zerstochen hat."

Esipov: Aus meiner Sicht ja. Aus meiner Sicht war dieser Auftritt der Nadelstich, der den großen Luftballon der Protestbewegung komplett zerstochen hat. Die Luft war danach komplett raus. Ein großer Teil von Menschen, die nicht so politisch interessiert und nicht so liberal gesinnt waren, aber trotzdem protestieren wollten, haben sich komplett von dieser Protestbewegung abgewandt, sind nicht mehr auf die Straße gegangen, haben nicht mehr protestiert, wurden ganz still.

Ich würde auch nicht von einer Spaltung der Opposition sprechen. Es war eine massive Abwanderung eines eher nicht politischen Teils dieser protestierenden Masse von einem liberalen Kern. Dieser liberale Kern hat einfach die Masse von Menschen verloren. Das war schon ein bisschen schade. 

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt in dieser ganzen Gemengelage die russisch-orthodoxe Kirche, wenn es um den Kreuzzug Putins gegen die Ukraine und gegen den Westen geht? 

Esipov: Die spielt dann eine entscheidende Rolle, nicht nur in diesem Krieg, sondern auch im Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Kirche ist neben der Armee eine der stützenden Säulen des Landes, der nationalen Identität. Denn als die Sowjetunion zerfiel und als die kommunistische Ideologie komplett weg war, war nichts Neues da.

Ich schreibe auch in meinem Buch darüber, dass der 7. November als Nationalfeiertag, als Tag der großen Oktoberrevolution abgeschafft wurde. Aber Weihnachten wurde als Feiertag noch gar nicht eingeführt. Es gab keinen richtigen Nationalfeiertag. Das muss man sich erst einmal vorstellen, was das mit einer Gesellschaft macht, wenn diese ethische Orientierung einmal verschwindet, wo das Gute, was man ein ganzes Leben lang für gut gehalten hat, weg ist, aber erst einmal nichts Neues kommt.

Wie sollen die normalen Menschen, die nicht so intellektuell unterwegs sind, die sich nicht so viele Gedanken machen, wie sie leben sollen, im Alltag mit Alltagsentscheidungen klarkommen? Wie funktioniert diese Alltagsethik? Wie funktionieren diese sogenannten ethical choices? Wie soll der Mensch entscheiden? Dann hat die Regierung eben aus dem 9. Mai, aus dem Tag des Sieges, einen Nationalfeiertag gemacht.

Die Armee wurde ganz wichtig für das Nationalbewusstsein und dann auch die orthodoxe Kirche, die auch dieses Vakuum besetzt hat, das nach dem Wegfall des Kommunismus entstanden war. Und jetzt sind es eben die zwei tragenden Säulen der Regierung und des Regimes. 

Wladimir Putin (l.) und Patriarch Kyrill / © Igor Palkin/Russian Orthodox Church Press Service/ AP (dpa)
Wladimir Putin (l.) und Patriarch Kyrill / © Igor Palkin/Russian Orthodox Church Press Service/ AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Aber wie hat es die russisch-orthodoxe Kirche geschafft, nach Jahrzehnten des Kommunismus, in denen sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt war, dieses Vakuum innerhalb kürzester Zeit wieder zu füllen? Sind die Russen trotz dieser jahrzehntelangen kommunistischen Herrschaft ein religiöses Volk?

Vladimir Esipov

"Ich kenne viele Leute, die ihr Parteibuch aufgegeben haben und am nächsten Tag in die Kirche gegangen sind."

Esipov: Sehr viele sind aus dem Kommunismus zur Kirche gewechselt. Dieser Wechsel war für viele relativ schnell und einfach, weil das Kommunistische auch ein bisschen religiöse Züge hat. Ohne jetzt groß ins Detail zu gehen, aber ich kenne viele Leute, die ihr Parteibuch aufgegeben haben und am nächsten Tag in die Kirche gegangen sind. Wir haben uns darüber auch gewundert. Meine Familie war nicht sehr religiös. Dieser fliegende Wechsel vom Kommunismus zur Kirche war schon beachtlich.

Dann hat der Staat natürlich nachgeholfen und unterstützt, weil der Staat auch erkannt hat, dass man irgendeine Ideologie braucht. Die orthodoxe Kirche und die russische Orthodoxie waren die Ideologie, die man dann brauchte. 

DOMRADIO.DE: Glauben Sie, dass dieses System Putin und russisch-orthodoxe Kirche noch lange Bestand haben wird oder glauben Sie, dass das irgendwann einmal zusammenbrechen wird? 

Esipov: Ich glaube nicht, dass es zusammenbrechen wird. Die russischen Eliten haben sehr gut gelernt aus dem, was in den achtziger und neunziger Jahren mit Russland und mit der Sowjetunion passiert ist. Sie haben gelernt, dass die Regime nicht zusammenfallen, wenn die Regale in den Geschäften leer werden, sondern wenn die Menschen anfangen, an ihrem Staat zu zweifeln.

So investiert der Staat das Fünffache in diese ideologische Unterfütterung und das Fundament des Zusammenhalts der Gesellschaft. Egal, was mit der Wirtschaft passiert, solange die Menschen an ihren Staat glauben, wird das alles bestehen. Da habe ich nicht die geringsten Zweifel, dass das noch sehr lange weitergehen kann wie jetzt, weil man das sehr konsequent verfolgt. 

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.

Esipov, Die russische Tragödie (privat)
Esipov, Die russische Tragödie / ( privat )

Buchtipp: Vladimir Esipov, Die russische Tragödie: Wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde, Heyne-Verlag 2024, 320 Seiten, 18 Euro.

 

 

Russisch-orthodoxe Kirche

Die russisch-orthodoxe Kirche ist mit rund 150 Millionen Gläubigen die mit Abstand größte orthodoxe Nationalkirche. In Russland bekennen sich gut zwei Drittel der Bevölkerung zu ihr - etwa 100 Millionen Menschen. Fast alle übrigen früheren Sowjetrepubliken zählt das Moskauer Patriarchat ebenfalls zu seinem kanonischen Territorium.

Russisch-orthodoxe Kirche mit Baugerüst (Archiv) / © Balakate (shutterstock)
Russisch-orthodoxe Kirche mit Baugerüst (Archiv) / © Balakate ( shutterstock )
Quelle:
DR