Die Kirchen müssen nach Ansicht des katholischen Theologen Thomas Söding wieder eine relevante Stimme im politischen Diskurs werden. "Sie dürfen sich nicht in eine gesellschaftliche Nische zurückziehen, sondern müssen Flagge zeigen - für Menschenrechte, für inneren und äußeren Frieden, für Solidarität und Nächstenliebe", sagte der Bibelwissenschaftler im Interview des Münsteraner Onlineportals kirche-und-leben.de am Dienstag. In der katholischen Kirche gehe im Moment viel Energie in die Lösung der selbstgemachten Verfassungskrise.
Söding ist Seniorprofessor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bochum, zudem Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Mitglied im Synodalen Ausschuss, dem Folgegremium des Synodalen Wegs der katholischen Kirche in Deutschland, und theologischer Berater der Weltsynode im Vatikan. Kürzlich erschien sein Buch "Gottesreich und Menschenmacht - Politische Ethik des Neuen Testaments".
Politisieren von der Kanzel herab ist peinlich
Söding führte aus: "Religion muss immer privat sein können, sie ist aber immer auch öffentlich. Hierzulande werden die Kirchen kleiner, sind aber immer noch die mit Abstand größten Organisationen." Als peinlich bezeichnete der Theologe das Politisieren von der Kanzel herab - "mit viel Meinung, aber ohne hinreichenden Sachverstand und ohne Sinn für politische Abwägungsprozesse."
Die Frage, in welchem Verhältnis Religion und Politik zueinander stehen, ist laut Söding zurück auf der Weltbühne. "Der flammende Fanatismus erschreckt, die Friedensapostel auf leisen Sohlen werden oft übersehen. Selbst in Deutschland, das seine Lektion hätte gelernt haben sollen, ist die Demokratie gefährdet." Die Demokratie lebe aber von ethischen Ressourcen, die alles andere als selbstverständlich seien. "Sie braucht auch vitale Religion. Nur so wird klar, dass Politik nur Politik ist - und sich auf das konzentrieren darf, was sie kann und soll: Gerechtigkeit in Frieden und Freiheit zu fördern."
Wäre Jesus heute Politiker?
Söding fügte hinzu: "Das Christentum hat eine Bringschuld, den Zusammenhalt, aber auch die Offenheit der Gesellschaft zu fördern. Das Neue Testament gibt die Impulse."
Auf die Frage "Wäre Jesus heute Politiker?" antwortete der Theologe: "Um Himmels Willen, nein! Er würde auch heute verkünden, wie unendlich nahe Gott den Menschen ist. Aber er wäre politisch nicht neutral. Er würde die Populisten und Diktatoren dieser Welt kritisieren, dass sie sich wie Götter aufspielen. Und er würde all diejenigen stärken, ohne die das politische Gemeinwesen zusammenbräche, auch wenn sie keine Stimme haben."