Militärseelsorge erarbeitet "geistlichen Operationsplan Deutschland"

Vorbereitung für den Ernstfall

Nicht nur die NATO und die osteuropäischen Staaten bereiten sich auf einen möglichen russischen Angriff vor. Auch die Militärseelsorge stellt ein solches Szenario vor neue Herausforderungen. Was wird da nun vorbereitet?

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan endet / © Torsten Kraatz/Bundeswehr (dpa)
Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan endet / © Torsten Kraatz/Bundeswehr ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie haben von der Kirchenkonferenz der EKD den Auftrag erhalten, einen "geistlichem Operationsplan Deutschland" auszuarbeiten. Was ist damit gemeint?

Der evangelische Militärbischof Bernhard Felmberg am 18.04.2024 auf dem Truppenübungsplatz Munster / © Jens Schulze (epd)
Der evangelische Militärbischof Bernhard Felmberg am 18.04.2024 auf dem Truppenübungsplatz Munster / © Jens Schulze ( epd )

Bernhard Felmberg (Leitender Evangelischer Bischof für die Seelsorge in der Bundeswehr): Die genaue Bezeichnung lautet: "Seelsorge und Akutintervention im Spannungs- und Verteidigungsfall". Ich nenne das kurz eine Art "geistlichen Operationsplan für Deutschland", damit auch jeder weiß, was damit gemeint ist: Es geht darum, dass wir uns auf Notfälle vorbereiten und dass das gebündelt und unter dem besonderen Aspekt des Verteidigungsfalls gesehen wird. Darum hat mich die Kirchenkonferenz gebeten und sie trägt damit dem Umstand Rechnung, dass wir als Kirchen in ökumenischer Verbundenheit im Katastrophen- oder Verteidigungsfall wissen, wer wann wo was tut. 

DOMRADIO.DE: Nun sind grundsätzlich Auslandseinsätze und Katastrophen nichts, mit dem deutsche Soldaten nicht schon vorher konfrontiert gewesen wären. Was hat sich durch den Ukraine-Krieg für die Militärseelsorge geändert?

Bernhard Felmberg

"Es ist schon eine völlig neue Situation."

Felmberg: Es ist schon eine völlig neue Situation. Selbst im Kalten Krieg war die Militärseelsorge darauf vorbereitet, dass Deutschland quasi die Kriegsfront darstellt. Würde jetzt der Verteidigungsfall eintreten, wäre das in Osteuropa an der NATO-Ostflanke. 

Wenn die Militärseelsorger und -seelsorgerinnen dort gebraucht werden, stellt sich die Frage: Wer ist eigentlich für die Familien von Soldatinnen und Soldaten hier in Deutschland zuständig? 

Dafür brauchen wir eine gute Verknüpfung mit der Notfallseelsorge, der Krankenhausseelsorge und auch mit den Gemeinden vor Ort, damit den seelsorgerlichen Bedürfnissen auch in so einem Fall Rechnung getragen wird. 

Natürlich hoffen wir nicht, dass es dazu kommt, aber eine Koordination ist nötig, denn wenn es zum Bündnis- oder Verteidigungsfall kommt, rechnen wir mit vielen Verletzten und Toten. 

Soldaten der Bundeswehr stehen am 24.10.2022 auf der Airbase Ämari in Estland mit ihrer Ausrüstung zusammen. / © Christophe Gateau (dpa)
Soldaten der Bundeswehr stehen am 24.10.2022 auf der Airbase Ämari in Estland mit ihrer Ausrüstung zusammen. / © Christophe Gateau ( dpa )

Hier ist die Frage: Wer begleitet die Verletzten? Wer begleitet die Offiziere bei der Überbringung von Todesnachrichten, und so weiter? Das sind viele Fragen, die aufkommen und die für uns völlig neu sind. Darauf müssen wir uns vorbereiten, damit wir als Kirche bei den Menschen sind, denn das ist unsere Aufgabe. 

DOMRADIO.DE: Auch in Afghanistan war die Bundeswehr im Einsatz und es wurden deutsche Soldaten getötet. Trotzdem gehen Sie jetzt von vollkommen anderen Szenarien aus? 

Felmberg: Wir hatten in Afghanistan in 20 Jahren 58 gefallene deutsche Soldaten. So sehr jeder einzelne Fall schrecklich ist und war, würde sich das, was wir bei der Landes- und Bündnisverteidigung erwarten, davon völlig unterscheiden, nicht nur quantitativ, sondern auch von der Vehemenz her. 

Deutschland wäre direkt betroffen. Die Gesamtheit der Militärseelsorge und auch die Gesamtheit der beiden Kirchen wäre betroffen und nicht nur diejenigen, die im Ausland im Einsatz sind. 

DOMRADIO.DE: Wie bereiten Sie die Militärseelsorgerinnen und -seelsorger darauf vor? 

Felmberg: Wir haben wirklich sehr gut ausgebildete Militärgeistliche, Pfarrerinnen und Pfarrer, die in der Regel auch viele Zusatzqualifizierungen haben. Trotzdem wäre der Bündnisfall natürlich auch emotional für jeden Menschen - auch für unsere Geistlichen - eine besondere Herausforderung. 

Da stellen sich einem Fragen: Wie reagiere ich selbst? Kann ich die Soldatinnen und Soldaten begleiten? Und wir reden darüber und bilden Strategien. Da sind natürlich auch weitere Fortbildungen nötig. Aber vor allen Dingen brauchen wir Pfarrerinnen und Pfarrer, die, wenn sie in die Militärseelsorge kommen, sich dieser Situation bewusst sind. 

DOMRADIO.DE: Sie sprachen eingangs von "ökumenischer Verbundenheit”. Das heißt, dieser "geistliche Operationsplan” gilt am Ende für Seelsorger*innen aller Konfessionen?

Felmberg: Wir arbeiten traditionsgemäß eng miteinander. Wir müssen uns auch klar sein, dass wir als Militärseelsorger in so einem schrecklichen Fall der Landes- und Bündnisverteidigung an der NATO-Ostflanke mit dem Menschen vor Ort zu tun hätten. Von daher ist sozusagen das, was vor Ort passiert, auch international zu koordinieren und eine Interoperabilität herzustellen. 

Und in Deutschland selbst ist es gut, wenn wir wissen, wie Krisenreaktionspläne funktionieren, wie die aufeinander abgestimmt sind, um dann den Menschen zu helfen, da zu sein und damit auch Hoffnung zu geben. 

DOMRADIO.DE: Die christlichen Kirchen haben sich immer für Friedensethik und Friedenspolitik eingesetzt. Wie schwer hat sich die EKD damit getan, Ihnen diesen Auftrag zu erteilen und damit im Grunde genommen auch die Tatsache anzuerkennen, dass ein Ernstfall so unwahrscheinlich gar nicht ist? 

Felmberg: Ich war sehr dankbar, dass die evangelische Kirche in Deutschland und die Kirchenkonferenz mir diesen Auftrag quasi einstimmig gegeben hat. Die EKD hat bei allen Auseinandersetzungen zum Thema Friedensethik immer an der Militärseelsorge festgehalten. 

Bernhard Felmberg

"Die EKD hat bei allen Auseinandersetzungen zum Thema Friedensethik immer an der Militärseelsorge festgehalten."

Und eines muss man auch sagen: Wir haben auch die Krankenhausseelsorge, aber deswegen reden wir nicht dem Schlaganfall oder dem Herzinfarkt das Wort, sondern wir sind dann da, wenn die Menschen krank sind. 

Wir haben eine Gefängnisseelsorge, deshalb reden wir aber nicht der Straftat das Wort, sondern sind für die Menschen da, wenn sie mit ihrer Schuld im Gefängnis umgehen müssen. Von daher ist es wichtig, dass die EKD in der Friedensdenkschrift von 2007 formuliert hat: "Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor."

Bundeswehrsoldaten / © Daniel Reinhardt (dpa)
Bundeswehrsoldaten / © Daniel Reinhardt ( dpa )

Daraus können wir aber nicht den Umkehrschluss ziehen: Wenn du dich für den Notfall vorbereitest, willst du den Notfall. Das wäre das fatal und würde auch in völlig anderen Lebensbereichen vieles infrage stellen, vom Erste-Hilfe-Kasten im Auto über die Notfallhotline bis zur Brandschutztür. 

Zum Glück denkt unsere Kirche aber nicht so und deshalb unterstützt sie die Militärseelsorge. Aber natürlich werden wir auch weiter einen Dialog innerhalb unserer Kirche haben, der sich zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik, zwischen Radikalpazifismus und einem realitätsbezogenen Handeln bewegt. Und das ist auch gut und richtig so. 

DOMRADIO.DE: Hat sich unter den Soldatinnen und Soldaten die Stimmung seit dem Ukrainekrieg geändert? Ist die Angst vor dem Ernstfall größer geworden? 

Felmberg: Zu Beginn des Krieges war die Stimmungslage natürlich mit Blick auf eine Kriegssituation sehr ausgeprägt. Das ist inzwischen einer Professionalität gewichen. Wir haben damals als Militärseelsorge sehr intensiv an solchen Fragen gearbeitet: Wie rede ich eigentlich, wenn ich ein Soldatenehepaar bin? 

Oder was erzählt ein Vater, der Soldat ist, seinen Kindern über den Krieg? Wie gehen Kinder damit um, wenn es in der Schule heißt: "Dein Vater ist bei der Bundeswehr, der muss jetzt in die Ukraine, der stirbt da."

Wir merken, dass die Soldatinnen und Soldaten sehr intensiv üben, es ist eine andere Ernsthaftigkeit als noch vor einigen Jahren. Und die Herausforderung und auch die Anspannung bei den Soldatinnen und Soldaten hat zugenommen. 

Bernhard Felmberg

"Bei der Militärseelsorge werden mit allen Fragestellungen konfrontiert, die das menschliche Leben ausmachen."

Bei der Militärseelsorge werden mit allen Fragestellungen konfrontiert, die das menschliche Leben ausmachen und das ist viel mehr als der Verteidigungsfall: Es geht um das tägliche Miteinander in der Ehe. Um Kinder. Wie ist es, wenn ich vom Ehepartner getrennt bin? Wie geht es mir mit meinen kranken Eltern, um die ich mich nicht kümmern kann, wenn ich im Einsatz bin? 

Oder wie geht es mir, wenn ich mir vorstelle, dass ich in die Brigade Litauen gehen muss? All diese Fragestellungen bearbeiten wir in der Militärseelsorge und wir genießen ein das Vertrauen der Soldatinnen und Soldaten. 

96 Prozent finden, dass die Militärseelsorge gute Arbeit macht. Von daher bin ich dankbar, dass dieses Vertrauen uns entgegengebracht wird und dass die Militärseelsorge eine große Rolle in der Bundeswehr spielt. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Militärseelsorge

Nach dem Soldatengesetz hat jeder Soldat und jede Soldatin Anspruch auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung.

Bislang leisten in der Bundeswehr die evangelische und die katholische Kirche sowie die jüdische Gemeinschaft eine vertraglich vereinbarte Militärseelsorge für die Soldaten und deren Angehörige.

Soldaten der Bundeswehr / © Daniel Reinhardt (dpa)
Soldaten der Bundeswehr / © Daniel Reinhardt ( dpa )
Quelle:
DR