DOMRADIO.DE: Bei Punk-Rock denkt man an Sicherheitsnadeln und gefärbte Haare. Wo genau hat das was mit Religion zu tun?
Alex Witte (Journalist_in, hat sich im Studium mit Punk-Rock beschäftigt): In der Kurzfassung könnte man sagen, dass Spiritualität und Religion quasi die Voraussetzungen dafür waren, dass Punk überhaupt in der Form entstehen konnte. Sowohl thematisch – also, worum es in den Liedern geht – als auch soundtechnisch.
Wobei ich da vielleicht nochmal sagen sollte, dass ich nicht über den britischen Punkrock der 70er-Jahre meine Arbeit geschrieben habe - der war nämlich ursprünglich ein reiner Marketingstunt -, sondern über den ganz frühen Amerikanischen Punk der 60er-Jahre.
Den nennt man auch Proto-Punk. Dazu zählen dann so Bands wie die Stooges und die Ramones, aber auch die Doors, Patti Smith und Velvet Underground, die man hier in Deutschland vielleicht eher kennt.
DOMRADIO.DE: Können Sie ein Beispiel dafür nennen, wo oder wie genau Spiritualität oder Religion im Punk auftaucht?
Witte: Bei Proto-Punk-Bands gibt es – zumindest gemessen an der Bevölkerung der USA – eine auffallend hohe Dichte an Künstlern, die aus jüdischen Familien kommen. Und auch wenn diese Künstler selbst vielleicht gar nichts mehr mit dieser Religion am Hut haben, ist das besonders in den USA immer noch total identitätsstiftend.
Viele der Familien, aus denen sie kommen, sind im Zweiten Weltkrieg aus Europa geflohen und tragen dieses Trauma natürlich mit sich herum und in die Kindererziehung hinein. Deswegen ist es auch nicht überraschend, dass viele Proto-Punk-Bands das in ihren Texten und auch ihrem Auftreten verhandelt haben.
Das war teilweise aber sehr widersprüchlich und unreflektiert. Manche von denen haben sich auch Hakenkreuze tätowieren lassen, weil sie das lustig fanden.
DOMRADIO.DE: Und was hat Spiritualität mit dem Punk-Sound zu tun?
Witte: Für den Proto-Punk ganz typisch sind sogenannte "Ostinati". In der Musiktheorie sind das sich ständig wiederholende Figuren, Melodien oder teilweise auch nur einzelne Geräusche, die sich durch das gesamte Lied ziehen. Im Proto-Punk ist das dann oft ein Dröhnen oder eine einzige Note, die durchgängig auf einer Geige oder so gespielt wird. Die Stooges haben teilweise auf der Bühne einfach einen Küchenmixer mitlaufen lassen.
Das kann einen sogenannten "psychoakustischen" Effekt erzeugen, bei dem man sich durch das ständige Hören quasi hypnotisiert fühlt. Man kann dann in einen Trance-Zustand kommen und der ist ja nicht umsonst auch Teil von vielen religiösen oder spirituellen Ritualen.
Bei dem längsten Song der "Stooges" zum Beispiel wird auch die ganze Zeit im Hintergrund ein hinduistisches Mantra durchgesungen. Denen war also durchaus bewusst, was sie da musikalisch machen. Die Beatles haben das dann übrigens auf dem Sgt. Pepper Album auch für sich entdeckt. Aber erst nachdem Protopunkbands wie Velvet Underground das schon gemacht haben.
Das Interview führte Dagmar Peters.