Musikstudent verknüpft Brahms-Requiem mit Umweltaktivismus

"Bewahrung der Schöpfung ist ganz klar unser Auftrag"

Die aktuellen Überflutungen in Osteuropa zeigen, dass es angesichts solcher Katastrophen bereits kurz nach zwölf ist. Proteste von Klimaaktivisten gibt es genug. Aber nur wenige, die dabei auf die Kraft klassischer Musik setzen.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
In Konzerten erklärt Nico Köhs sein Konzept einer Kombination aus Klimaaktivismus und Musik / © Christine Blei
In Konzerten erklärt Nico Köhs sein Konzept einer Kombination aus Klimaaktivismus und Musik / © Christine Blei

DOMRADIO.DE: Ausgerechnet mit einer Totenmesse und ihrer Vergänglichkeitsthematik wollen Sie auf die akute Bedrohung der Schöpfung, auf den von Menschen gemachten Klimawandel, aufmerksam machen. Liegt darin nicht eine gewisse Ironie? 

Nico Köhs geht mit dem "Deutschen Requiem" von Brahms in seine Masterprüfung / © Ben Knabe
Nico Köhs geht mit dem "Deutschen Requiem" von Brahms in seine Masterprüfung / © Ben Knabe

Nico Köhs (Pianist und Masterstudent im Fach Chordirigieren an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz): Wenn man sich die Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – oder auch kurz Weltklimarat genannt – anschaut, der mit wissenschaftlicher Expertise bereits Szenarien für das Jahr 2050 durchspielt, dann geht es schon heute ganz klar um die existenzielle Bedrohung unserer Lebensgrundlagen. Denn in 25 Jahren werden nach diesen Erhebungen manche Landstriche komplett unbewohnbar sein, was vor allem Länder des sogenannten "globalen Südens" betreffen wird. 

Aber auch in Europa werden sich die klimatischen Bedingungen verschlechtern. Und das hat konkrete Auswirkungen: Immer häufiger wird extremes Wetter wie Starkregen, Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen oder Stürme unsere Ernteeinträge dezimieren, unsere Infrastruktur zerstören und negative gesundheitliche Folgen mit sich bringen. 

Gerade die Zerstörung der Infrastruktur, wie wir es bei uns im Ahrtal erlebt haben und gerade auch wieder in den Ländern Polen, Österreich, Rumänien oder Tschechien sehen können, zeigt, dass die Klimakrise unsere Lebensweise schon jetzt bedroht. Alle diese Fluten wären ohne die bisherige Klimaerwärmung in dieser Größenordnung so nicht möglich gewesen. 

Von daher greift ein Requiem thematisch diese dramatische und existenzielle Bedrohung des Menschen auf. Und da passt besonders gut auch der Satz des Bariton-Solo "Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss". Hier klingt die Endlichkeit unseres Lebens an, aus der ich eine Verantwortung für zukünftige Generationen ableite. Deshalb eignet sich gerade das Brahms-Requiem sehr gut für diesen Kontext.

DOMRADIO.DE: Woran genau machen Sie das fest?

Köhs: Plakativer geht es doch kaum, wenn ich da an Passagen wie "Das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen" denke, mit denen auf Dürrephänomene und Hitzewellen hingewiesen wird. Oder – umgekehrt positiv – an die Aussage "Wie lieblich sind deine Wohnungen", die auf die Schönheit der Schöpfung verweist. 

Da ist uns etwas geschenkt, für das wir in unserem eigenen Interesse die Verantwortung übernehmen sollten, weil diese Gaben letztlich – so erleben wir es – sehr zerbrechlich sind. Gottes Schöpfung zu bewahren ist unsere Verpflichtung. 

Nico Köhs

"Angesichts meines eigenen Ohnmachtsdenkens, angesichts der Größe und Komplexität des Problems, tut dieser ‚große Trost’, der in der Musik liegt, sehr gut."

Im 5. Satz des Requiems heißt es "Ich will euch trösten wie einen seine Mutter tröstet". Brahms hat zwei Monate nach dem Tod seiner eigenen Mutter angefangen, an diesem Werk zu arbeiten. Darin liegt so viel Menschliches. Auch die Klimakrise löst nur allzu menschliche Reaktionen aus: Frustration, Resignation, Leugnung... Und angesichts meines eigenen Ohnmachtsdenkens, angesichts der Größe und Komplexität des Problems, tut dieser "große Trost", der in der Musik liegt, sehr gut. 

Musikstudent Nico Köhs macht seinen Master in Chordirigieren / © Christoph Papsch
Musikstudent Nico Köhs macht seinen Master in Chordirigieren / © Christoph Papsch

Viele Mitwirkende bei unserem Projekt machen sich Sorgen, wie die Entwicklung in den nächsten fünf bis zehn Jahren weitergehen wird, und da ist es für den Moment sehr wertvoll, etwas zu haben, was größer ist als das eigene Ich. 

In diesem Zusammenhang ist für mich als Musiker im Brahms-Requiem das Wort "Aber" von entscheidender Bedeutung: "Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit" oder im Sopransolo "Aber ich will euch wiedersehen". Da kommt eine starke Hoffnung auf ein besseres "morgen" zum Ausdruck, aber eben auch Trost für die Hinterbliebenen. Denn für sie ist dieses Werk ja gedacht.

DOMRADIO.DE: Sie sind davon überzeugt, dass man mit Kunst die Lücke zwischen abstrakten Szenarien und emotionaler Erlebbarkeit schließen kann. Braucht es da nicht stärkere Allianzen, als ein geistliches Chorwerk aufzuhören, um sich Gehör zu verschaffen?

Köhs: Die Wissenschaft hat ihren Auftrag erfüllt, die Szenarien sind bekannt und zeigen auch in best-case-Szenarien keine gute Richtung an. Das Problem ist folglich erkannt, die Handlungsoptionen liegen auf dem Tisch. 

Die trotzige Lebensfreude, die in Brahms‘ Musik liegt, halte ich hier für ganz wichtig, weil die Wissenschaft aus sich heraus alles andere als emotional ist – sie darf es auch nicht sein. Aber Menschen lassen sich nun mal am besten aktivieren und motivieren, wenn sie emotional beteiligt sind. Und da liegen Möglichkeiten für die Kunst.

Nico Köhs

"Letztlich geht das Thema alle Menschen, egal zu welcher gesellschaftlichen Schicht sie gehören, etwas an. Schließlich kann niemand diesem Planeten entfliehen."

Insgesamt werden an diesem Samstag in der Kölner Musikhochschule mit Chor und Orchester 115 Menschen auf der Bühne stehen; die meisten von ihnen sind zwischen 25 und 35 Jahre alt. Dadurch wirkt diese Musik schon allein zahlenmäßig überwältigend, und Ausschnitte wie die "ewige Freude" im strahlenden Tutti haben eine unfassbare Kraft. 

So gelingt es uns vielleicht, das Publikum mit diesem Thema zu erreichen und zum Nachdenken anzuregen. Letztlich geht es alle Menschen, egal zu welcher gesellschaftlichen Schicht sie gehören, etwas an. Schließlich kann niemand diesem Planeten entfliehen. 

DOMRADIO:DE: Ist die Musik Ihre Form, Klimaaktivismus zu betreiben?

Köhs: Ich hatte mal überlegt, politisch aktiv zu werden. Mein Musikstudium war mir dann aber wichtiger. Meine Konzerte sind nun für mich eine gute Möglichkeit, beides miteinander zu verbinden. Zudem denke ich, dass die klassische Musik einen wichtigen Beitrag in unserer heutigen krisengeplagten Zeit leisten kann und sollte. 

Die existenziellen Themen, die sie behandelt, sind doch genau die Kernfragen unserer Zeit. Außerdem gibt es meiner Ansicht nach auf einer rein praktischen Ebene Nachholbedarf in der klassischen Szene, zum Beispiel was die Umweltverträglichkeit von Konzerttourneen angeht – da wird viel geflogen, und auch hier sollte ein Umdenken stattfinden. 

DOMRADIO.DE: Zurück zum Stichwort "Allianzen bilden": Glauben Sie, dass Sie über Ihre Projekte – das Brahms-Requiem ist ja nicht Ihr erstes der Klimathematik gewidmetes Konzert – Mitstreitende für das gemeinsame Anliegen gewinnen?

Köhs: Unbedingt, es ist eine sanfte Form des Protests. Konkret gesagt: Wir kleben uns nicht auf die Straße, sondern versuchen mit der Kraft der Wissenschaft und der Kunst, Menschen argumentativ und emotional zu überzeugen. 

Mit klassischer Musik will Nico Köhs einen Beitrag zum Klimaschutz leisten / © Peter Adamik
Mit klassischer Musik will Nico Köhs einen Beitrag zum Klimaschutz leisten / © Peter Adamik

Das dauert zwar länger, ist aber meiner Meinung nach der einzige Weg in einem demokratischen System, Menschen für sich zu gewinnen. Ich halte es für ein Privileg, dass wir diesen Weg nutzen können. Bisher funktioniert das für uns als Ensemble ganz gut.

DOMRADIO.DE: Was genau wollen Sie beim Zuhörer bewirken? Warum widmen Sie dieses Konzert dem Klimawandel?

Köhs: Es wäre schon ein Gewinn, wenn dieses Konzert die Leute berühren und Trost spenden könnte. Wenn darüber hinaus Menschen durch unsere Konzerte selbst aufstehen, um aktiv zu werden, wäre das eine tolle Sache. 

In der Summe würde das jedenfalls viel bewegen, wenn unsere Musik den Impuls dafür liefern würde und sie für den Zuhörer in diesem Moment eine Wirksamkeit hätte.

DOMRADIO.DE: Mit Ihrem vor vier Jahren gegründeten Chor "Ensemble for Future" knüpfen Sie namentlich an die Bewegung "Fridays für Future" an. Welche Idee verbinden Sie damit? 

Köhs: Mittlerweile gibt es ja viele "for Future"-Gruppen: "Teachers for Future", "Psychologists for Future", "Omas for Future" – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Und ich fand, dass es so etwas eben auch in der Musik geben sollte. Inzwischen ist das "Ensemble for Future" ein gemeinnütziges Unternehmen mit ordentlichem Eintrag im Handelsregister. 

Aber eigentlich hat das Ganze noch eine viel größere Dimension, wenn man den Namen mal wörtlich nimmt: "Zusammen für die Zukunft". Das ist doch ein sehr anschauliches Bild für das dahinter stehende Anliegen und bringt auch unsere gegenseitige Abhängigkeit zum Ausdruck. Von daher ist der Name auch Programm: Wie gestalten wir Zusammenleben in den nächsten 10 bis 20 Jahren? 

DOMRADIO.DE: Welche Hoffnung oder Vision haben Sie denn für die Zukunft?

Nico Köhs

"Ich würde mir wünschen, dass wir gerechter mit Ressourcen umgehen und mehr Rücksicht aufeinander nehmen."

Köhs: Ich wünsche mir ein gutes Leben für möglichst viele Menschen und dass unser Zusammenleben nicht durch äußere Faktoren, die aufgrund des Klimawandels entstehen, bedroht wird. Was das dann konkret heißt, müssen wir ausdiskutieren. 

Dazu gehört meiner Meinung nach jedenfalls, Wohlstands- und Freiheitsbegriffe neu zu definieren. Denn die für uns selbstverständlich gewordene Freiheit und der Wohlstand in unserer westlichen Welt gehen auf Kosten der Menschen im "globalen Süden" und letztlich auch auf Kosten unserer eigenen Lebensgrundlagen. So wie es ist, funktioniert es jedenfalls schon länger nicht mehr. Ich würde mir wünschen, dass wir gerechter mit Ressourcen umgehen und mehr Rücksicht aufeinander nehmen.

Hoffnung macht mir persönlich da ein Projekt wie unser "Klima-Requiem", weil so viele Menschen zusammen aus Überzeugung an einer gemeinsamen Sache arbeiten. Diese Totenmesse ist ein geistliches Oratorium, in dem es auch um die Bewahrung der Schöpfung geht, die uns von Gott anvertraut wurde. Nochmals: Sie ist ein Geschenk, ein Privileg, bedeutet aber gleichzeitig auch Verantwortung – nicht nur uns selbst gegenüber, sondern auch gegenüber den Generationen nach uns. 

Immer öfter frage ich mich, was werden die Kinder, die in meiner Generation geboren werden, für eine Zukunft haben und welche ist meine Rolle dabei, um ihnen die gleichen Chancen, die ich einmal hatte, zu ermöglichen. So gesehen ist die Bewahrung der Schöpfung ganz klar ein Auftrag, der an uns alle geht.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Aufführung von "Ein deutsches Requiem"

Aufführung von "Ein deutsches Requiem" op. 45 von Johannes Brahms am 21. September um 19.30 Uhr im Konzertsaal der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Es musizieren: "Ensemble for Future” und "Orchester des Wandels" unter der Leitung von Nico Köhs. Solisten: Theresa Klose, Sopran, und Konstantin Paganetti, Bariton.

Chor- und Orchestermusik / © Jens Kalaene (dpa)
Chor- und Orchestermusik / © Jens Kalaene ( dpa )
Quelle:
DR