DOMRADIO.DE: Sie haben als Lehrerin seit Ende der 1990er-Jahre bis heute schon vieles erlebt. Wie hat sich der Unterricht denn in diesen Jahren verändert?
Vera Döhner (Lehrerin für katholische Religion, Ethik und Latein am Bertha-von-Suttner-Gymnasium in Andernach): Ich fange mal beim Positiven an: Bei den Menschen, die ich unterrichte. Die jungen Leute sind durchaus weltoffener, unkomplizierter und entspannter geworden im Laufe der letzten 25 Jahre.
Andererseits hat sich zum Schwierigeren verändert, dass man selbst am Gymnasium immer weniger Grundkenntnisse oder Grundwissen aller Art voraussetzen kann. In meinen Fächern ist das besonders schwierig, vor allem in Religion, aber auch in Ethik, wo man viel mit Texten arbeitet.
Das Textverständnis wird immer schwieriger. Man muss Wörter erklären, bei denen man denkt, das es nicht sein kann, dass die Schüler das nicht wissen, aber sie wissen es wirklich nicht. Ein allgemeines Aufmerksamkeitsdefizit ist leider auch zu bemerken und auch ein immer geringer werdendes sprachliches Vermögen.
DOMRADIO.DE: Künstliche Intelligenz (KI) ist auch immer mehr ein Thema in der Schule. Was sind da Vor- und Nachteile?
Döhner: Ein Vorteil ist mit Sicherheit, wenn gezielt und reflektiert recherchiert wird. Dann kann das sehr nützlich sein – nicht nur für junge Menschen, sondern für alle. Im Hinblick auf die Schule stellt sich aber die Frage, ob es sinnvoll ist, regelmäßig die Hausaufgaben von der KI erledigen zu lassen.
Genauso war es früher zu unserer Zeit die Frage, ob es sinnvoll ist, regelmäßig die Hausaufgaben vom großen Bruder erledigen zu lassen. Denn wenn man es falsch anwendet, steht da eine gewisse Kurzsichtigkeit dahinter. Wenn man nur auf KI baut, dann bleibt im Kopf nichts hängen.
DOMRADIO.DE: Wie aktuell kann man denn insbesondere den Religionsunterricht halten?
Döhner: So, wie man Schule generell aktuell halten kann, indem man immer versucht, die jungen Menschen da abzuholen, wo sie gerade so stehen. Das soll man ohnehin, das lernt man auch in der Ausbildung. Es ist aber vor allem in Religion und auch in Ethik wichtig, weil es da noch mehr als in Mathematik oder Biologie um die menschlichen und mitmenschlichen Dimensionen geht.
Man sollte möglichst viel Bezug zum täglichen Leben herstellen und in Religion auch durchaus an den passenden Stellen den Bogen zum Glauben schlagen, aber, ohne dass man sich anbiedert oder aufdrängt. Als Lehrer muss man da authentisch bleiben und die Schüler ernst nehmen und in ihren Belangen respektieren.
Ich hatte zum Beispiel in dieser Woche in der elften Klasse das Thema Zehn Gebote behandelt. Die sind nun ein bisschen antiquiert, aber sie finden sich heute durchaus in den Menschenrechten und auch im Grundgesetz wieder. Da sind die jungen Leute auch sofort drauf gekommen. Das war richtig schön, dass da der Bezug da war: Zehn Gebote, klar, haben wir heute auch noch.
DOMRADIO.DE: Welche Bedeutung haben denn der Religions-, aber auch der Ethikunterricht für das Demokratieverständnis?
Döhner: Auch in den Fächern kann und muss man ganz dringend daran mitarbeiten, dass aus heranwachsenden Leuten mündige und selbstbewusste junge Menschen und Bürger werden. Auch da hatte ich in der Woche in der neunten Klasse in Religion ein Beispiel. Das Thema ist da zurzeit die Industrialisierung, die soziale Frage und vor allem engagierte Christen, die sich in der Zeit eingesetzt haben. Wir haben zum Beispiel über Emmanuel von Ketteler (Gründer der Katholischen Arbeitnehmerbewegung, Anm. d. Red.) gesprochen.
Da kann man den jungen Menschen dann auch bewusst machen, dass das, was damals sozialpolitisch mit viel Leid und vielen Problemen und Schmerzen erkämpft worden ist, heute für uns selbstverständlich ist. Aber auch da sind sie selbst drauf gekommen, indem sie gesagt haben, dass es heute in Deutschland keine Kinderarbeit mehr gibt und Schutz sowie Versorgung im Krankheitsfall besteht. Das haben die Kinder richtig gut erkannt.
DOMRADIO.DE: Der Religionsunterricht steht seit Jahren in der Diskussion. Es gibt auch Bundesländer, in denen er teilweise abgeschafft wurde. Was würden Schulen denn verlieren, wenn sie ihn nicht mehr anbieten?
Döhner: Es gibt durchaus religiöse Bedürfnisse und Gedanken bei den jungen Menschen. Ich merke aber immer stärker in den letzten Jahren, dass diese religiösen Bedürfnisse und Gedanken mit klassischen kirchlichen Strukturen und den Vorgaben nichts mehr oder immer weniger zu tun haben.
Meines Erachtens wäre ein Fach wie "Religionskunde" heute ehrlicher. Es müsste ein bisschen attraktiver und netter heißen. Das wäre aber heute ehrlicher, weil immer weniger religiöse Kenntnisse und Anknüpfungspunkte in den Lebenswirklichkeiten der Kinder da sind.
Ganz konkret wissen die Kinder etwa heute nicht mehr, was wir an Pfingsten feiern. Deswegen denke ich, so etwas wie "Religionskunde" wäre vielleicht ganz gut, weil andererseits religiöses Bewusstsein durchaus da ist, aber kaum noch religiöse Kenntnisse.
DOMRADIO.DE: Ist der Lehrerberuf noch immer ein Traumjob von Ihnen?
Döhner: Der Beruf an sich, in dem ich nun schon seit fast 30 Jahren sehr schöne und auch gute Erfahrungen sammeln konnte, ja. Wenn ich aber heute noch einmal vor der Entscheidung stünde, weiß ich nicht, ob ich es noch mal machen würde.
Da habe ich auch ein Beispiel aus meiner Familie. Mein Sohn wäre, meines Erachtens nach, ein wirklich begabter Lehrer. Er ist verständnisvoll, geduldig und ruhig. Er hat mir aber ganz klar gesagt, bei dem, was er bei mir über die letzten Jahre so mitbekommen hat, möchte er das lieber nicht.
Um aber noch mal zum Positiven zu kommen: Wir haben hier in Andernach immer noch ganz liebe Schüler. Die sind eigentlich super, auch verglichen mit dem, was man oft hört und liest aus Großstädten und was man auch von anderen Schulen hört. Wir haben hier am Bertha-von-Suttner-Gymnasium doch wirklich noch im Großen und Ganzen eine gute Klientel.
Das Interview führte Carsten Döpp.