Neues Buch zu den Folgen des Terroranschlags am 7. Oktober vorgestellt

"Solche Zustände in Deutschland nicht für möglich gehalten"

Der Terroranschlag am 7. Oktober 2023 in Israel hat auch den interreligiösen Dialog erschwert. Dass Juden und Muslime trotzdem miteinander reden können, zeigen Josef Schuster und Ahmad Mansour in ihrem neuen Buch.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Berlin: Eine Person steht in Juni 2024 bei der Abschlussveranstaltung für den "Platz der Hamas-Geiseln" auf dem Bebelplatz mit einem Bild einer Geisel / © Fabian Sommer (dpa)
Berlin: Eine Person steht in Juni 2024 bei der Abschlussveranstaltung für den "Platz der Hamas-Geiseln" auf dem Bebelplatz mit einem Bild einer Geisel / © Fabian Sommer ( dpa )

DOMRADIO.DE: Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland sprunghaft in die Höhe gegangen. Das Buch, das Sie zusammen mit dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Josef Schuster und der Publizistin Shelly Kupferberg geschrieben haben, heißt "Spannungsfelder: Leben in Deutschland". Sie selbst sind arabischer Israeli mit palästinensischem Hintergrund und Muslim. Wie hat sich Ihr Leben seit dem 7. Oktober verändert?

Publizist Ahmad Mansour  / © Maurizio Gambarini (dpa)
Publizist Ahmad Mansour / © Maurizio Gambarini ( dpa )

Ahmad Mansour (Diplom-Psychologe und Experte für Extremismusprävention): Massiv. Als jemand, der in diesem Land aufgewachsen ist, hat es mich erschüttert, diese Bilder zu sehen. Und die Tatsache, dass ich meine Meinung dazu offen ausspreche, hat meine persönliche Gefährdung noch mal erhöht. Ich lebe tagtäglich mit der Angst um mein Leben und das meiner Familie und das ist etwas, was mich massiv überfordert, weil ich solche Zustände in Deutschland nicht für möglich gehalten hätte. 

DOMRADIO.DE: Sie leben seit Jahren mit Personenschutz, weil Sie als Kritiker des politischen Islam immer wieder bedroht werden. Wie oft erwartet man von Ihnen, dass Sie sich für eine Seite entscheiden, bzw. wie oft versucht man, ihnen von der jeweiligen Seite das "Arabischsein" oder das "Israelischsein" abzusprechen?

Ahmad Mansour

"Tagtäglich begegnen mir Menschen, die mir vorschreiben wollen, was ich zu denken habe."

Mansour: Sehr oft. Bei den Workshops in Schulen sorgt die Information, dass ich arabischer Israeli bin, oft für Diskussionen: Was bedeutet das? Warum gibt es überhaupt arabische Israelis? Und dass ich mich entscheiden soll, ob ich Israeli oder Palästinenser bin. 

Aber ich bin in beiden Kulturen groß geworden, so wie rund zwei Millionen Araber, die in Israel leben, überwiegend Muslime. Aber in den Diskursen in Deutschland wird diese Komplexität selten wiedergegeben. Es gibt hierzulande so viele Experten, die vorgeben, das Land, die Kultur und die Konflikte besser zu kennen, als wir selbst und die uns belehren wollen. Vor allem seit dem 7. Oktober habe ich das Gefühl, dass alle von einem erwarten, dass man sich "für eine Seite" entscheidet. 

Ich habe mich für die Menschlichkeit, gegen Terror und für ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Palästinensern entschieden. Ich stehe dazu, aber tagtäglich begegnen mir Menschen, die mir vorschreiben wollen, was ich zu denken habe. Und so geht es nicht nur mir. Ich kenne viele Muslime in Deutschland, die mir hinter vorgehaltener Hand sagen, dass sie die Hamas kritisch sehen, aber sich nicht trauen, das laut auszusprechen. 

DOMRADIO.DE: Ist der Druck in den Communities so groß? 

Mansour: Der kollektive Druck ist unfassbar groß. Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 ist es den Menschen fast unmöglich gemacht, eine persönliche individuelle Haltung zu entwickeln. Es werden Meinungen vorgegeben, von Menschen, die glauben, die Situation der Palästinenser besser zu kennen, als wir selbst. 

Das ist genau die Tragödie, dass wir als Palästinenser seit 75 Jahren das gleiche machen und glauben, das würde irgendwann zu einem anderen Ergebnis führen. Aber es bringt nur Elend. 

Ich bin dafür, neue Wege zu gehen, bei denen es um Versöhnung, Frieden und Zusammenleben geht. Aber diese Stimmen werden massiv unterdrückt, weil die Extremisten den Ton angeben. 

DOMRADIO.DE: Sie erzählen in dem neuen Buch, wie Sie in ihrem arabischen Heimatdorf in Israel selbst mit dem antijüdischen Narrativ aufgewachsen sind. Ihre Familie hat 1948 bei der Staatsgründung Israels ihr Land verloren, die Juden waren für Ihre Familie und Ihr Dorf immer der Feind, Sie selbst haben sich in jungen Jahren sogar den Muslimbrüdern angeschlossen. Was gab Ihnen den Impuls, umzudenken und eine weitere Sichtweise, nämlich die der Israelis, zuzulassen? 

Mansour: Einerseits waren es die Begegnungen. In Tel Aviv zu studieren und dem "Feind" tagtäglich zu begegnen, hat dazu geführt, dass ich tagtäglich herausgefordert war, mich und meine Vorurteile in Frage zu stellen. 

Zum anderen habe ich beobachtet, wie unglücklich mein Vater durch diesen jahrzehntelangen Hass war, und das wollte ich für mich nicht. Dann muss man als Mensch nachdenken und sich fragten, ob man diesen Weg gehen will, den Hass weiterverbreiten und das an die folgenden Generationen weitergeben? 

DOMRADIO.DE: Sie begegnen hier in Deutschland bei Ihrer Arbeit oft Jugendlichen mit muslimischen Wurzeln, die mit denselben Narrativen wie Sie aufgewachsen sind, die Israel und die Juden hassen, obwohl sie nie dort waren und den Nahostkonflikt nicht verstehen. Warum sind diese Narrative so attraktiv und wie intervenieren Sie da?

Ahmad Mansour

"Ich habe den Eindruck, dass die Extremisten und Antisemiten gerade alles tun, um Jugendliche zu erreichen und wir schauen tatenlos zu."

Mansour: Ich kann verstehen, dass die Vereinfachung von komplizierten Sachverhalten auf Jugendliche attraktiv wirkt. Aber ich kann sie über Empathie erreichen, mit Dialog auf Augenhöhe und Vorbildern aus der eigenen Community, die sich gegen den Hass aussprechen. 

Das braucht natürlich Zeit, das sind Begleitungsprozesse. Aber ich bin überzeugt, wenn wir anfangen würden, um jeden Einzelnen zu kämpfen, würden wir eine Gesellschaft haben, in der es solche Phänomene nicht mehr gibt. Aber ich habe den Eindruck, dass die Extremisten und Antisemiten gerade alles tun, um Jugendliche zu erreichen und wir schauen tatenlos zu. 

DOMRADIO.DE: An deutschen Schulen gehört das Thema Holocaust fest in den Lehrplan – trotzdem gibt es Antisemitismus an Schulen. Ein bis zwei Jahre Geschichtsunterricht sind wohl nicht das geeignete Mittel, Antisemitismus zu bekämpfen?

Ahmad Mansour

"Wir sollten unsere Erinnerungskultur und unsere Verantwortung neugestalten."

Mansour: Es ist vor allem eine Frage der Methode. Wenn das Thema jungen Menschen mit Schuldgefühlen vermittelt wird, dann wird das auf Dauer nicht funktionieren. Wenn Menschen vor dem Auswärtigen Amt mit Schildern demonstrieren, auf denen steht: "Befreit Palästina von deutscher Schuld!", dann zeigt es, dass unsere Erinnerungskultur gescheitert ist. 

Es geht nicht um die Vergangenheit, sondern es geht um die Verantwortung für die Zukunft unserer Demokratie und die betrifft alle. Es geht nicht nur um den Holocaust, sondern auch um das aktuelle Israel und das moderne Judentum. Wie und warum der Staat Israel gegründet wurde und wie sich daraus die Konflikte von heute entwickelt haben. Und um die Frage, wie das damals in Deutschland möglich war und was eine wehrhafte Demokratie bedeutet.

Aber diese Aspekte werden sehr oft vernachlässigt. Was nutzt uns ein "Nie wieder!", wenn die Hälfte aller Jüdinnen und Juden in Deutschland über das Auswandern nachdenkt? Es ist zur Floskel geworden, die inhaltsleer ist und keine wirkliche Haltung dahinter zeigt. Wir sollten unsere Erinnerungskultur und unsere Verantwortung neugestalten, mit dem Ziel, jeden und jede in dieser Gesellschaft zu erreichen. 

DOMRADIO.DE: Sie und der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, haben vor dem 7. Oktober 2023 mit den Aufzeichnungen für Ihr Buch "Spannungsfelder: Leben in Deutschland" angefangen. Wie hat der Terroranschlag in Israel und der darauffolgende Krieg in Gaza Ihre gemeinsame Arbeit verändert? Gab es auch Kontroversen?

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden / © Nicolas Armer (dpa)
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden / © Nicolas Armer ( dpa )

Mansour: Ursprünglich sollte es um Interreligiosität und das Zusammenleben von Muslimen und Juden in Deutschland gehen. Damals ahnten wir nicht, wie aktuell unser Thema werden würde. 

Kontroverse gab es nicht zwischen uns, denn obwohl wir aus unterschiedlichen Kulturen und Kontexten kommen, hat dieser 7. Oktober unser beider Leben massiv verändert. Auf beiden Seiten gibt es Trauer, Verunsicherung und Angst. Und so ergeht es vielen Menschen, egal ob sie Muslime, Juden, Israelis, Deutsche oder Palästinenser sind. 

DOMRADIO.DE: Was war für die für Sie überraschendste neue Erkenntnis aus den Gesprächen mit Josef Schuster? 

Mansour: Wie tiefgreifend der Holocaust Juden in Deutschland bis zum heutigen Tag prägt. Dass eigentliche jede Entscheidung, jede Haltung davon beeinflusst ist, nicht nur bei denen, die ihn überlebt haben, sondern auch bei den nachfolgenden Generationen ein transgenerationales Trauma hinterlassen. Das hat der 7. Oktober noch einmal sehr deutlich gemacht und das hat mich massiv erschüttert. 

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Information zum Buch: Ahmad Mansour, Josef Schuster und Shelly Kupferberg: "Spannungsfelder. Leben in Deutschland". Herder Verlag 2024

Quelle:
DR