Debatte um Wolf regt Frage nach Schöpfungsverantwortung an

"Wir sind die eigentlichen Räuber"

Immer wieder reißen Wölfe in Deutschland Herdentiere. Die Angriffe wecken das Mitgefühl in der Bevölkerung. Rainer Hagencord vom Institut für theologische Zoologie findet, es braucht ein generelles Umdenken im Umgang mit Tieren.

Autor/in:
Dagmar Peters
Ein Grauwolf im Wald / © Michal Ninger (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Viele Menschen haben aktuell Sympathie mit den Herdentieren oder deren Besitzern, wenn der Wolf kommt. Geht es hierbei um die Sympathie mit den Weidetierhaltern, deren Existenz bedroht ist, wenn zu viele Tiere vom Wolf gerissen würden? Oder geht es dabei um das Wohl der Herdentiere selbst? 

Dr. Rainer Hagencord, Institut für Theologische Zoologie in Münster / © Elisabeth Schomaker (KNA)
Dr. Rainer Hagencord, Institut für Theologische Zoologie in Münster / © Elisabeth Schomaker ( KNA )

Dr. Rainer Hagencord (Institut für theologische Zoologie): Ich nehme im ganzen Land eine Welle der Sympathie für all die Hirten und Hirtinnen wahr, die in dieser Weise ihre Schafe, Ziegen und Rinder auf den Almen halten und jetzt durch den Wolf in diese Bredouille kommen wahr. Und nicht nur bei uns. Es ist angemessen, hier Sympathie und Solidarität zu zeigen und es stellt sich die Frage: Ist jetzt nicht die Gelegenheit, diese auch auf das große Feld der Nutztierhaltung zu weiten? 

Wir wissen, dass es den Schweinen, Puten, Hühnern und Rindern in der industriellen Tierhaltung nicht gut geht. Wir wissen auch, dass es den kleinbäuerlichen oder mittleren Betrieben, die ihre Tiere möglicherweise nach Demeter-, Bioland- oder anderen Kriterien halten, nicht gut geht. Jetzt hat sich eine Tür geöffnet, finde ich. Nutzen wir diese Empathie, diese Solidarität mit den Weidetieren und ihren Haltern und Halterinnen, um darüber nachzudenken: Welches System der Tierhaltung wollen wir denn? Wen wollen wir als Verbraucher und Verbraucherinnen unterstützen? 

Rainer Hagencord

"Wir wissen, dass es in diesem System eigentlich nur noch Verlierer gibt."

DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie gehen der Frage nach: Wie gehen wir in unserem Land mit den Tieren, mit Nutztieren generell, um? 

Hagencord: Das ist schon lange ein Thema und darum ergibt sich jetzt auch eine Chance, finde ich. Wir sehen durch die Berichterstattung, was für harte Arbeit die Tierhaltung auf den Weiden in den Bergen ist. Diese Arbeit ist angemessen, wenn wir selbst, und auch unsere Schöpfung, uns etwas wert sind. Das sollten wir auch auf den Bereich der industriellen Tierhaltung übertragen. Wir wissen, dass es in diesem System eigentlich nur noch Verlierer gibt: die Artenvielfalt, das Grundwasser, kleinbäuerliche Betriebe. Also wenn nicht jetzt, wann sollten wir unser Verhalten und unser Einkaufs- und Essverhalten sonst anpassen?

DOMRADIO.DE: Hier stellt sich vielleicht die Frage: Wer ist der eigentliche Wolf? Das Tier oder der Mensch, der so mit den Tieren im Allgemeinen umgeht? 

Hagencord: Eben. Der Wolf, um es salopp zu sagen, hätte überhaupt keine Wahl. Wir sehen auch in biblischen Texten, dass hier keine Verklärung stattfindet. In den Evangelien warnt Jesus als guter Hirte natürlich vor dem Wolf und fordert Hirten und Hirtinnen auf, ihre Tiere zu schützen. Wir finden aber auch diese wunderbare Friedensvision des Jesaja, die meistens im Advent gelesen wird. Da ist die Rede davon, dass der Wolf auch beim Lamm ruht. Und beide Texte zusammen ergeben eine realistische Sicht auf das Tier: Der Wolf ist ein Tier, vor dem wir uns schützen müssen. Aber wir sind diejenigen, die eine Wahl haben. Wir können uns entscheiden, auf Gewalt zu verzichten – und zwar nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren gegenüber. In dieser Jesaja Friedensvision ist die Rede davon, dass wir auch im Hinblick auf die Tiere ohne Gewalt auskommen müssten und sollten. 

Rainer Hagencord

"Voller Respekt vor den Ökosystemen, wo Bär, Luchs und Wolf ihren Platz haben."

DOMRADIO.DE: Wie sind die Menschen damals mit der Bedrohung durch den Wolf umgegangen? 

Hagencord: Ich habe neulich aktuelles Interview mit einem Hirten im Engadin gesehen, der sagt, er macht diese Arbeit schon von Generation zu Generation. Und von seinem Großvater hat er noch gelernt, dass immer ca. 10 % der Tiere verloren gehen, wenn sie auf die Almen getrieben werden. Also einerseits eine sehr nüchterne Haltung, und andererseits auch eine voller Respekt vor den Ökosystemen, wo Bär, Luchs und Wolf ihren Platz haben und eben Weidetiere reißen. Es ist die Frage, ob wir zu so einer Nüchternheit vielleicht noch mal zurückkommen. 

DOMRADIO.DE: Auch in der Bibel kommt der Wolf als reales Raubtier vor. Aber den bösen Wolf verbinden wir natürlich auch schnell mit Märchen. Da wurde der Wolf früher immer schon als böse beschrieben. Ist diese Angst vor dem Wolf denn tief in uns verankert? Möchten Menschen deshalb den Wolf bekämpfen dürfen? 

Hagencord: Ich kann mir vorstellen, dass das etwas sehr Archaisches ist. Dass wir auf der einen Seite durch den Hund, den die frühe Menschheit sehr schnell gezähmt hat, auch diejenigen sind, die wir heute sind. Der Hund hat sehr früh Aufgaben der frühen Menschen übernommen und dadurch dazu beigetragen, dass die Menschheit überleben konnte. Der Wolf war weiterhin natürlich bedrohlich. Und diese Ambivalenz, die Angst vor dem Wilden, die Angst vor dem Wolf und gleichzeitig eine Nähe zu ihm, steckt wahrscheinlich noch in uns. 

Rainer Hagencord

"Wir sind die eigentlichen Räuber, die Lebensräume vernichten."

DOMRADIO.DE: Inwiefern steht der Wolf für Artenvielfalt? Er hat ja keine natürlichen Feinde und tötet andere Tiere. Rottet er andere Arten nicht eher aus? 

Schafherde im Morgennebel auf einer Weidefläche / © Katharina Gebauer (KNA)
Schafherde im Morgennebel auf einer Weidefläche / © Katharina Gebauer ( KNA )

Hagencord: Ich glaube, es ist nie der Fall, dass die großen Beutegreifer Wolf, Bär oder Luchs zur Ausrottung beitragen. Das sind eher wir. Wir sind die eigentlichen Räuber, die Lebensräume vernichten. Ich habe neulich eine Studie gelesen, die in einem der amerikanischen Nationalparks über Jahre stattgefunden hat. In diesem Nationalpark war der Wolf nicht mehr vorhanden, er war ausgerottet. Nachdem man ihn wieder angesiedelt hat, konnte man von Jahr zu Jahr sehen, wie die Biodiversität zunimmt. Warum? Weil bis dahin die großen Herden von Hirschen oder anderen Beutetieren völlig ungestört waren. Sie konnten sich vermehren, haben auch die kranken Tiere durchgebracht und vor allem haben sie ganz lange auf bestimmten Flächen verweilt und damit den Wiesen, Sträuchern und Bäumen den Garaus gemacht. Der Wolf kam zurück, die Tiere wurden viel wachsamer, wechselten schneller ihre Orte und sorgten so dafür, dass sich die Situation an bestimmten Stellen wieder veränderte. Es gibt dann in der Folge die Rückkehr von bestimmten Insekten, von Vögeln bis hin zum Biber. Das war hoch spannend, weil sich die Vegetation total verändert hat und der Biber sogar wiederkam. 

DOMRADIO.DE: Wie würden Sie denn aktuell entscheiden, wenn Sie Politiker wären? Wie müsste man agieren, um mit so unterschiedlichen Tierarten wie Wolf und Schaf in Frieden leben zu können? Denn Weidezäune reichen ja nicht aus, wie wir gehört haben. 

Hagencord: Ja, der berühmte Hirtenhund kommt da noch ins Spiel. Dazu gibt es auch sehr spannende Untersuchungen und Förderprojekte, gerade im alpinen Raum. Es gibt ja diese wunderbaren Hirtenhunde, die mit den Schafen oder Ziegen groß werden und sich im Grunde selbst fühlen wie ein Schaf oder eine Ziege einerseits, auf der anderen Seite aber auch den Wolf in ihrer Verantwortung als Hütehund vertreiben. Wir müssen da sehr nüchtern über Entschädigungen reden, und das geht geschieht ja auch. Wir müssen darüber reden, dass die schon genannten Zäune auch finanziert werden, dass gerissene Tiere entschädigt werden. Das ist überhaupt gar keine Frage. Hier braucht es Pragmatik. Aber noch mal: Durch dieses große Thema fällt unser Blick auf das viel drängendere Thema des Artenschwundes. Wir vernichten so viele Lebensräume, gerade dass wir alle 20 Minuten eine Tierart verlieren. Aber jetzt fällt der Blick hierauf. Der eigentliche Räuber ist nicht der Wolf. Das sind wir.  

Das Interview führte Dagmar Peters. 

Tierethik stößt auf immer breiteres Interesse

Schon auf der ersten Seite zieht sich beim Lesen der Magen zusammen: Die französische Philosophin Corine Pelluchon listet in ihrem "Manifest für die Tiere" auf, wo Tiere nicht artgerecht behandelt, gequält und getötet werden. Von Tierversuchen über überfüllte Tierheime bis zu Schlachthäusern: "Überall dort herrschen Unglück und Ungerechtigkeit." So wie die Menschheit Tiere behandle, drohe sie ihre eigene Seele zu verlieren, schreibt Pelluchon.

Ein männliches Küken (dpa)
Ein männliches Küken / ( dpa )
Quelle:
DR