DOMRADIO.DE: "Die Schrifterzähler", so heißt Ihr Podcast und darin nähern Sie sich der Bibel aus ungewöhnlichen Perspektiven. Erzählt die Bibel nicht genug?
Werner Kleine (Pastoralreferent der Katholischen Citykirche Wuppertal und Experte für das Neue Testaments): Die Bibel erzählt schon genug, aber nicht alles. Die Bibel enthält, wie alle Texte, die wir Menschen schreiben, auch Leerstellen, also Lücken, die in der Regel sofort von unserer Fantasie gefüllt werden.
Aber man muss bedenken, dass die Bibel ja nicht einfach so vom Himmel gefallen ist. Den allermeisten biblischen Texten ist ja eine Erzähltradition vorausgegangen. Man hat vorangegangene Erzählungen, die von Mund zu Mund gegangen sind, verschriftlicht und für uns bis heute überliefert. Dann war es schon in sehr früher Zeit so, dass man diese Geschichten weitererzählt hat. Das sind die Texte, die wir heute als Apokryphen kennen. Wir gehen auf Weihnachten zu und es gibt apokryphe Weihnachtsevangelien, die sehr wirksam sind.
Unsere Weihnachtstradition lebt zum Beispiel von einem apokryphen Text aus dem Protoevangelium des Jakobus. Da ist man hingegangen und hat die Leerstellen des Evangeliums erzählerisch weiter entfaltet. Das machen Till Magnus Steiner und ich jetzt auch, auf unsere eigene Weise. Wir nehmen diese Tradition auf, biblische Texte einfach mal neu zu erzählen. Meistens machen wir das so, dass wir die Leerstellen, die in den Texten enthalten sind, neu füllen und damit einen neuen Klang in die Geschichte bringen.
DOMRADIO.DE: Till Magnus Steiner ist Alttestamentler. Sie sind Neutestamentler. Warum diese Kombination?
Kleine: Das ist eine spannende Kombination. Man kann das Neue Testament nicht ohne das Alte verstehen. Es gibt im christlichen Bereich zwar immer wieder Bestrebungen zu sagen: "Das Alte ist vergangen und nur das Neue zählt." Dann wird häufig noch gesagt, dass es im Alten Testament den Rachegott gibt und im Neuen Testament den friedlichen Gott. Das stimmt aber alles so nicht ganz. Ich empfehle, die Offenbarung des Johannes aus dem Neuen Testament zu lesen. Da sieht man einen Gott, der sehr rachevoll eingreifen kann, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen.
Und im Alten Testament finden wir sehr friedliche Gottesbilder. Diese Klischees passen einfach nicht. Es hat seinen ganz eigenen Reiz, jemanden mit alttestamentlicher und jemanden mit neutestamentlicher Perspektive, ganz nach alter jüdischer Sitte, zusammenzubringen, für ein Gespräch wie zwischen zwei streitenden Rabbinern.
Das machen wir ja schon länger zusammen, mit unserem Internetprojekt "Dei verbum". Da streiten wir wissenschaftlich oder populärwissenschaftlich miteinander. Dann hatte Till Magnus Steiner die Idee, dass wir ein anderes Format ausprobieren und die Geschichten neu erzählen. Damit hat er mich begeistert und so haben wir angefangen, die Geschichten neu zu erzählen.
DOMRADIO.DE: Drei Folgen sind von Ihnen beiden bisher erschienen. In einer geht es um den Sündenfall, aus eher ungewöhnlicher Sicht.
Kleine: Für mich ist das die 'sogenannte' Sündenfall-Erzählung. Das Wort Sünde taucht im dritten Kapitel von Genesis gar nicht auf, das kommt erst im vierten Kapitel beim Brudermord Kains. Für mich ist es eine Geschichte, in der die Menschen lernen, Gut und Böse zu erkennen. Eine Geschichte über das Heranwachsen und reif zu werden für das Leben, Coming-of-Age-Erzählung. Der Mensch kommt zu sich selbst. Und dazu gehört halt auch die Erkenntnis von Gut und Böse.
Da hat natürlich unsere Tradition eine Rolle gespielt. Ich schlüpfe in meiner Erzählung in die Rolle einer Gestalt, die es in der Bibel gar nicht gibt. Das ist auch so ein Witz. Ich bin Luzifer, der Höchste der Engel, der Lichtträger. Luzifer heißt eigentlich "Lichtträger". Der trägt nämlich das Flammenschwert Gottes und das Schwert der Erkenntnis.
Der ist furchtbar neidisch auf diese beiden Menschen, die plötzlich Gut und Böse unterscheiden können. Als Höchster aller Engel ist er perfekt und am Schluss verlässt er den Himmel, lässt sein Flammenschwert vor dem Garten Eden liegen - das ist Teil der biblischen Erzählung - und will ein Mensch sein. Er will, wie die Menschen, frei zwischen Gut und Böse entscheiden können und sterblich werden.
Eine kleine Geschichte am Rande: Auch Messdiener, die Kerzen tragen, werden Luziferare genannt. Allein da merkt man schon, dass das keine kleinen Teufelchen sind. Manchmal vielleicht schon, aber meistens doch eher nicht.
DOMRADIO.DE: Ich finde es interessant, dass es am Ende Ihrer Geschichte nicht um Adam und Eva geht, sondern um den gefallenen Engel Luzifer.
Kleine: In meiner Erzählung schon, Till Magnus Steiner hat eine andere Perspektive. In meiner Erzählung spielt Luzifer eine sehr starke Rolle. Ich wiederhole häufig, dass Luzifer der höchste der Engel ist und wie die Menschen sein möchte. Dadurch bekommt die Geschichte einen ganz neuen Drive. Wenn man sich ein wenig mit der Bibel auskennt, merkt man, dass es eine ganze Reihe von Assoziationen darin gibt.
Da ist die Lukas-Geschichte drin, in der Jesus den höchsten der Engel aus dem Himmel fallen sieht. Da ist der Hebräerbrief drin, in dem es heißt, dass man mit manchem Gast eben auch Engel beherbergt, ohne sie zu erkennen, vielleicht ist auch Luzifer gerade zu Gast. Er ist kein böser Engel im eigentlichen Sinne, zumindest in meiner Erzählung nicht. Er ist ein Engel, der die Erkenntnis sucht und der, der diese Perfektion des Himmlischen hinter sich lassen will, um frei zu sein wie wir Menschen.
Und da ist ja noch etwas, was wir in der Bibel finden: Der Mensch wurde nur wenig geringer gemacht als Gott und die Engel haben ihm zu dienen. Biblisch gesehen steht der Mensch über den Engeln und Luzifer möchte einfach keine perfekte Marionette am Thron Gottes sein.
DOMRADIO.DE: Das war die erste Geschichte aus dem Alten Testament. In der Zweiten geht es um das Neue Testament. Die Brotvermehrung ist dort das Thema. Dann geht es wieder zurück ins Alte Testament, zum Turmbau zu Babel. Welche unerwarteten Figuren können wir da erwarten?
Kleine: In der Brotvermehrung erzähle ich weniger von unerwarteten Figuren. Ich betrachte die Brotvermehrung mal nicht aus der Sicht eines Wunders. Ich biete eine Erklärung an, wie man das Wunder heute reproduzieren könnte. Ich glaube, dass diese Geschichte aus dem Matthäusevangelium heute eine Art Betriebsanleitung für die Kirche sein könnte, wie die Kirche auch heute noch ein solches Wunder bewirken könnte. Aber man muss sich die Geschichte anhören, um das herauszubekommen.
DOMRADIO.DE: Das ist für so manchen aus der Kirche vielleicht nicht uninteressant, da hereinzuhören.
Kleine: Ich als Neutestamentler frage mich, was es mir hilft, einen wunderbaren Jesus zu haben, der seit 2000 Jahren nicht mehr auf dieser Erde wandelt? Da können wir in Ehrfurcht erstarren, aber wenn das einen Sinn haben soll, müssten wir die Wunder doch heute reproduzieren können. Der Auftrag, den wir durch Jesus haben, ist doch, es ihm nachzutun. Ich glaube, dass in den Evangelien beschrieben ist, wie man das machen könnte. Und das versuche ich einfach mal aufzuzeigen.
DOMRADIO.DE: Fast schon ein schönes Schlusswort. Aber ich möchte ganz gerne noch einen Blick auf die nächste Geschichte werfen. Die Geschichten erscheinen immer dienstags. Worauf können wir uns in der nächsten Folge der Schrifterzähler freuen?
Kleine: Da geht es um Zachäus, den berühmten Zöllner aus Jericho, der da auf einen Baum klettert, aber ich will jetzt nicht zu viel verraten, das sollen die Hörerinnen und Hörer selber herausfinden. Nur so viel: Er muss die Hosen herunterlassen!
Das Interview führte Bernd Hamer.