DOMRADIO.DE: Was wissen Sie von Ihren Projektpartnern vor Ort? Wie ist die aktuelle Lage in Aleppo?
Johannes Seibel (Pressesprecher des internationalen katholischen Hilfswerks in Aachen): Aleppo befindet sich in einer ganz schwierigen Situation. Die Stadt ist abgeriegelt. Die Behörden, die Schulen, die Universitäten, die Büros sind geschlossen. Ganz schlimm ist, dass auch die Banken geschlossen sind. Die Menschen sind von ihren monatlichen Löhnen abhängig, aber jetzt werden keine Löhne mehr ausgezahlt. Das heißt, die Menschen stehen kurz davor, ihre Versorgung nicht mehr gewährleisten zu können.
Unsere Partner berichten von langen Schlangen vor Bäckereien. Sie fürchten, dass dort das Brot bald ausgeht. Natürlich leiden die Menschen darunter, dass die Preise exorbitant in die Höhe gehen. Das ist die wirtschaftliche Seite.
Zudem ist die Lage der Sicherheit sehr unübersichtlich. Die Menschen trauen sich zu großen Teilen nicht aus dem Haus. Viele sind schon geflohen. Das war am ersten Tag des Überfalls noch möglich. Unsere Partner berichten, dass rund ein Viertel der schon sehr angeschlagenen christlichen Gemeinde in Aleppo nach Homs oder nach Damaskus geflohen ist. Insgesamt ist die Lage sehr dramatisch und traumatisierend für die Menschen.
DOMRADIO.DE: Die Christen in Syrien befinden sich mit nur zehn Prozent in der Minderheit. Aber dennoch haben sie für das Land eine Bedeutung. Welche?
Seibel: Wir gehen davon aus, dass in Syrien noch ungefähr 600.000 bis 800.000 Christen leben. Das sind echt taffe, richtig mutige Menschen. Sie sind aktiv in den Bereichen Bildung, Gesundheit, sie arbeiten in Hospitälern, betreiben Hospitäler, Bildungseinrichtungen, Fortbildungseinrichtungen. Dafür sind sie in Syrien auch sehr respektiert. Man muss sehen, dass Syrien ein ganz hartes Schicksal hat: Seit 2011/2012 herrscht Bürgerkrieg, dann kam Covid, die Inflation, dann im Nordwesten das Erdbeben vor einem Jahr.
Die Menschen sind schon am Rande der Erschöpfung und da sind Christen und Christinnen für ihre Mitbürger diejenigen, die ihnen Hoffnung und Halt geben. Ich denke zum Beispiel auch an Bischof Jacques Mourad aus Homs, den wir unterstützen. Der hatte zwei Klöster mit seiner Gemeinde mit aufgebaut, die aber beide während der Herrschaft des "Islamischen Staates" zerstört wurden. Dort hat er mit Muslimen zusammen gearbeitet. Dieser interreligiöse Dialog, diese religionsübergreifende Arbeit, führt zu hohem Respekt für die Christen in Syrien.
DOMRADIO.DE: Eine Hilfseinrichtung der Franziskaner in Aleppo soll von dem Überfall der Dschihadisten getroffen worden sein, das Gebäude ist stark beschädigt. Was wissen Sie über christliche Einrichtungen in der Stadt?
Seibel: Wir drücken den Franziskanern alle Daumen. Das ist echt eine schwierige Situation für sie. Das Terra Santa College wurde von einer Rakete getroffen. Dort hatten die Franziskaner für die Armen in der Stadt eine Suppenküche und eine Bäckerei aufgebaut. Dort konnten Jugendliche lernen. Das ist das, was die Franziskaner machen. Das ist auch das, was unsere Partner mit unserer Hilfe machen.
Diese Partner vor Ort wissen, wie das Geld, das in Deutschland oder in anderen Ländern für die Unterstützung Syriens gespendet wird, dort ankommen und genutzt werden kann. Das ist jetzt die große Aufgabe für unsere Partner, erst mal zu eruieren, wo die Menschen Hilfe brauchen? Wie können sie helfen? Sie müssen die Arbeit teils von zu Hause aus organisieren, weil ihre Büros geschlossen sind. Sie brauchen alle unsere Unterstützung.
DOMRADIO.DE: Wie ist die aktuelle Perspektive? Wie kann sich diese Situation weiter entwickeln?
Seibel: Die Perspektive ist nicht gut. Die Menschen dort haben auch Angst. Sie sehen zwei Szenarien. Das erste Szenario ist, dass sich die Dschihadisten tatsächlich in Aleppo halten und ein dschihadistisches System einrichten. Darunter leiden die Christen insbesondere. Jetzt schon berichten Partner, dass das Personal in geschlossenen Hospitälern und in Schulen ausgetauscht wird. Sie haben Angst davor, dass dann gerade Christen verfolgt und unterdrückt werden.
Das zweite Szenario ist nicht viel besser. Das zweite Szenario sieht vor, dass Assad die Stadt zurückerobert. Wie wir wissen, ist so eine Zurückeroberung mit Bombardements, mit heftigen Kämpfen, mit Zerstörung verbunden. Wie es weitergeht, wissen wir nicht. Wir appellieren an die internationale Politik, auch an Regionalmächte wie die Türkei oder Katar, die Friedensverhandlungen führen könnten, sowie an Russland und vor allen Dingen an den Westen, alles zu tun, damit dieser Krieg diplomatisch beendet werden kann.
Das Interview führte Tobias Fricke.