DOMRADIO.DE: Sie kommen aus einem Theologenhaushalt und sind protestantisch aufgewachsen. Papst Franziskus schreibt in seinem Brief, dass die Literatur aufnahmefähig für das Wort Gottes macht. Können Sie damit was anfangen?

Aleida Assmann (Literatur- und Kulturwissenschaftlerin): Ja, damit kann ich sehr viel anfangen, nicht nur durch mein Elternhaus, in dem das Lesen eine große Rolle gespielt hat, aber vor allem natürlich auch durch meinen Beruf. Und ich freue mich sehr, dass mich der Papst jetzt an meinen Beruf erinnert.
Ich habe mich von dem ein bisschen weg entwickelt durch meine Erinnerungsforschung. Aber tatsächlich steht im Kern, im Mittelpunkt meiner Arbeit, das Lesen und das Buch, die Geschichte des Buches und die Fragen: Seit wann lesen wir? Was lesen wir? Wie lesen wir? Und dass der Papst mir da einen neuen Weckruf sozusagen mitgebracht hat, das hat mich sehr überrascht.
DOMRADIO.DE: Literatur sei ja ursprünglich aus der Religion erwachsen, sagen Sie. Wie das?
Assmann: Die Literatur stand zunächst im Mittelalter natürlich auch unter dem Dach der Religion. Sie musste sich erst einmal emanzipieren, um zur Kunst zu werden, das Ästhetische gab es gar nicht. Das ist eine Entwicklung der Moderne, der Neuzeit. Shakespeare ist da genau auf der Schwelle, der emanzipiert sich, baut sich ein Theater und das ist wirklich der Kunst gewidmet und tritt aus dem Raum der Religion heraus.
In dieser Zeit muss sich die Literatur überhaupt erst mal erklären und rechtfertigen. Sie hat keine guten Karten, weil man den Don Quixote im Gedächtnis hat. Das ist ja ein lesender Romanheld, der durch seine Lektüren in die Irre geht. Das ist also die falsche Art von Literatur, die einen vom rechten Weg abbringt. Aber dass die Literatur eine eigene Würde und Wichtigkeit und Bedeutung hat und endlich Kultur auch verkörpert, das war damals neu.
DOMRADIO.DE: Und dann gab es gewisse Reibungsflächen. Der Vatikan reagierte bis vor gar nicht so langer Zeit relativ grob auf Literatur und setzte einiges auf den Index.
Assmann: Genau. Wir kennen den Index der verbotenen Bücher. Und das Interessante an dem Papstbrief zur Literatur ist, dass er nun nicht mit einer Leseliste für seine Priester reagiert, indem er ihnen sagt, welche Bücher sie lesen sollen. Es geht nicht um ein Pensum der Pflichtlektüre, sondern es geht darum, dass sie sich wirklich in die Literatur versenken.
Das interessiert mich, weil das im Studium der Literatur immer ausgespart wird. Da geht es nie wirklich um den Kontakt zwischen Leser und Text, sondern da geht es um alle möglichen Theorien, die dazwischen geschaltet sind. Aber in diesem Fall hat der Papst wirklich den Leser, die Leserin im Auge und beschreibt, was Literatur mit Menschen macht und wie wir menschlicher werden können durch Literatur.
DOMRADIO.DE: Der Brief des Papstes zur Literatur war ursprünglich an die Priesteramtskandidaten in den Priesterseminaren gerichtet. Aber dann öffnet er sich doch an allen Gläubigen, an alle Christen.
Assmann: Ja, und dass er sich an die Priesterseminare widmet, ist auch klar aus den ersten Abschnitten dieses Briefes. Aber dann öffnet sich der Brief an alle Adressaten. Da steht nämlich, dass die Menschen heute völlig von den neuen Formen des Lesens beherrscht werden, damit sind vor allem die neuen sozialen Medien gemeint. Tatsächlich merken wir gar nicht, wie wir inzwischen aus dem Bereich der Printmedien und der Literatur herausgerutscht sind – in eine andere Form des Lesens, die, ich drücke es mal einfach aus, nur noch mit Elektrizität funktioniert.
Das heißt, um zu lesen, brauchen wir immer ein Lesegerät, eine Maschine und wenn wir dem folgen, dann haben wir keine wirklichen Interaktionsbeziehungen mehr, die wir selber aufbauen, mit einem Vorstellungsgehalt, den wir überhaupt erstmal in unserem Gehirn entwickeln müssen, sondern wir folgern nur noch den Vorgaben. Wir treten nicht wirklich in eine Diskussion mit einer Welt, die anders ist als die unsere, über die wir etwas über die Vielfalt des Menschseins lernen können.
DOMRADIO.DE: Ist Lesen heute altmodisch? Wenn wir auf die sozialen Medien, auf Instagram, TikTok und YouTube schauen, könnte man zu dieser Ansicht kommen?
Assmann: Ja, aber der Punkt alt- oder neumodisch ist hier irrelevant. Die Frage ist, was brauchen Menschen? Und die Idee ist, dass das eine kulturelle Ressource ist, die ganz wichtig ist und die im Moment in Gefahr ist, verschüttet zu werden durch diese Neuen Medien.
Dass uns tatsächlich das Lesen nicht abhanden kommt, auch nicht das Printlesen, das sehen wir jetzt auch an der Buchmesse in Leipzig. Und es sind eigentlich nur Menschen wie Trump, die sich davon auch öffentlich abkehren und die sagen, wenn sie den Geruch von Büchern einatmen, dann werden sie müde. Also die gar nicht mehr in der Lage sind, ein Buch zu öffnen.
Das ist natürlich ein großer Teil der Menschheit. Aber es geht doch darum, den Kern, diese Ressource, die wir aus der Literatur schöpfen, wieder zu entdecken und weiter zu entfalten.
DOMRADIO.DE: Warum sollten wir das Lesen denn wieder entdecken. Welchen Nutzen hat Literatur denn?
Assmann: Literatur ist ein unglaublich wichtiger Weg, zunächst der Selbstbildung und Persönlichkeitsbildung. Wir gehen diesen Weg, indem wir uns eigentlich erstmal aus unserem unmittelbaren Kontext heraus entfernen. Wir müssen uns zurückziehen zum Lesen, wir müssen eine Tür zumachen, wir brauchen Ruhe. Wir sind ganz bei uns.
In diesem Rückzug erfahren wir dann mit dem Buch einen Schritt der Entwicklung über die Grenzen unserer Welt hinaus. Und es sind genau diese Schritte über diese Grenzen in unserer Welt hinaus, die uns weiterbringen, die uns dazu motivieren, nicht zwingen, sondern motivieren, die Vielfalt des Lebens in verschiedenen Kulturen unter ganz anderen zeitlichen Umständen zu erfahren und eben auch hautnah an diese Menschen heranzukommen, über die wir lesen.
DOMRADIO.DE: Und da ist es umso lobenswerter, dass Papst Franziskus quasi die Literatur zurück in den kirchlichen Raum holt.
Assmann: Ich finde das eine großartige Entwicklung. Ich würde sagen, es ist nicht nur für den kirchlichen Raum wichtig, es ist eigentlich für die Gesamtgesellschaft wichtig. Deswegen hat es mich verwundert, dass er das im Sommer letzten Jahres veröffentlicht hat. Dann hat es einige wenige Reaktionen in den Zeitungen gegeben. Aber dann war das Thema schnell vorbei.
Ich glaube, es war sehr gut, dieses Thema in die Lit.Cologne zu holen und zu zeigen, dass das nicht nur ein saisonales Thema war, sondern dass es wirklich eine Grundlage der Kultur ist und auch der Entscheidung, wie geht es mit dieser Kultur weiter.
DOMRADIO.DE: "Dichter lügen nicht, denn sie behaupten gar nicht, die Wahrheit zu sagen", haben Sie gesagt. Sie haben sich mit der Legitimität der Fiktion ausführlich beschäftigt. Welche Legitimität hat denn die Fiktion?
Assmann: Das ist interessant, dass die Fiktion als solche zunächst mal unter Verdacht geriet, weil sie nicht unmittelbar zielgerichtet ist und keinen Nutzen hervorbringt, sondern zunächst mal ein Zeitvertreib ist. Dieser Zeitvertreib wurde bis in die jüngste Gegenwart nicht wirklich gewürdigt, deswegen erzähle ich immer von meiner Schwiegermutter. Wann immer sie saß und ein Buch las, und ihre Mutter kam vorbei, sagte die Mutter: "Kind, tu was."
Lesen war verlorene Zeit, vergeudete Zeit, man musste aktiv etwas tun, man hatte seine Aufgaben. Diese Freiräume des Lesens sind aber unglaublich wichtig. Und diese Möglichkeit, die Ressource des Lesens neu zu nutzen, ist etwas, was im Zentrum unserer Kultur stehen sollte.
DOMRADIO.DE: "Die resiliente Demokratie braucht kein Feindbild, aber einen starken Sinn für das, was Menschen miteinander verbindet und zusammenhält". Das schreiben Sie in Ihrem Buch "Gemeinsinn", das Sie mit Ihrem Mann zusammen geschrieben haben. Wie können denn die Kirchen dazu beitragen, dass dieser sechste Gemeinsinn sich stärker ausprägt?
Assmann: Auch da trifft der Brief des Papstes ins Zentrum, denn er sieht die Lektüre als ein Medium der Stärkung von Empathie. Empathie ist eine Möglichkeit, die wir schon besitzen. Neurowissenschaftler haben das beweisen können. Wir haben diese Anlage zur Empathie. Wir können mit anderen Menschen mitdenken und mitfühlen.
Das ist auch ein Anliegen unseres Buches "Gemeinsinn". Wir haben auch ein Kapitel über Empathie in dem Buch und darüber, wie Empathie mit Lesen verknüpft ist. Denn das Lesen ist eine der wichtigsten Möglichkeiten, über uns hinauszudenken und in den Köpfen und Herzen anderer Menschen mitzudenken und uns mit denen zu verbinden und auch zu verbünden.
Das Interview führte Johannes Schröer.