Radiosender schafft Verbindung zur Außenwelt für Geiseln in Kolumbien

Nachrichten aus der "anderen Welt"

Nur das Rascheln der Briefe und ein leises Murmeln stört die Ruhe der kalten Nacht. Kurz vor ein Uhr in der Früh verteilt sich ein Dutzend Studenten auf dem betonierten Bolzplatz im des Armenviertel von Bogota. Moderator Herbin Hoyos Medina gibt letzte Instruktionen, bevor er die Radiosendung mit den immer gleichen Worten einläutet: "Es ist ein Uhr in der Nacht. Hier sind 'las voces del secuestro' von Radio Caracol, Kolumbien. Der Sender widmet sich den Entführten, die da draußen in den Wäldern und Bergen Kolumbiens auf Nachrichten von ihren Lieben warten. Die Sendung wird noch es solange geben, bis der letzte Entführte freigelassen worden ist."

 (DR)

Jede Woche um die gleiche Zeit ist die Mannschaft des Geiselradios irgendwo in Kolumbien unterwegs. Nie am gleichen Ort; immer suchen sie Gegenden aus, die von der Guerilla oder den Paramilitärs kontrolliert werden: "Weil wir damit den Geiseln so nah wie möglich sein können", sagt Hoyos.

Erst vor wenigen Tagen wurde Clara Rojas freigelassen. Die Helferin der seit Jahren entführten Ex-Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt war über fünf Jahre in Geiselhaft. Ihre einzige Verbindung zur Außenwelt war das Radio. Stundenlang lesen die ehrenamtlichen Helfer, durchweg junge, engagierte Journalismus-Studenten, Briefe der Angehörigen an die Geiseln vor. Zudem werden aus dem Studio Anrufe zugeschaltet.

Eine Stimme in der Einsamkeit
Für die Adressaten - etwa 4.200 Menschen gelten in Kolumbien derzeit als verschleppt - ist es oft für viele Monate, gar Jahre die einzige Brücke zu ihren Liebsten. Irgendwo draußen in den Gebirgszügen der Anden lauschen sie tief in der Nacht mit pochendem Herzen den bis zu 60 Nachrichten pro Sendung und hoffen, dass eine davon auch für sie über den Sender geht. Es gibt erschütternde Nachrichten wie die des fünfjährigen Juan, der seinen "Papi so sehr vermisst". Juan hat ihn noch nie gesehen - denn der Vater wurde vor der Geburt entführt. Nun hört er in den Bergen der Anden die Stimme des Sohnes, vielleicht zum ersten Mal.

Herbin Hoyos Medina ist ein mehrfach ausgezeichneter Kriegsreporter mit internationaler Erfahrung. 1994 war er selbst das Opfer einer Rebellen-Entführung und sehnte sich "in dieser gottverlassenen Einsamkeit" nach einer Botschaft der eigenen Familie. "Ein Mann, der schon jahrelang entführt war, fragte mich an jenen Tagen der Haft nach meinem Beruf. Ich sagte, ich sei Radioreporter. Da sagte er: Warum macht ihr keine Sendung für uns?" Das Geiselradio war geboren.

Nur das Geld zählt
"Nichts von seiner Familie zu hören, ist brutal. Viele Geiseln fühlen sich vergessen und verlassen", sagt Hoyos. In der Regel dürfen die Entführungsopfer Radio hören oder fernsehen, damit die Eintönigkeit ein wenig erträglicher wird. Gelegentlich kommt sogar vor, dass Geiselnehmer auf verschlungenen Wegen Kontakt zum Sender aufnehmen und um eine Nachricht für einen suizidgefährdeten Verschleppten bitten. Denn eine tote Geisel ist keinen Peso mehr wert und Geld ist die einzige Währung, die die kolumbianische Entführungsmaschinerie akzeptiert. Seien die Motive offiziell noch so politisch: Hinter den Kulissen der linken oder rechten Rebellen zählt nur "la plata" (das Geld).

Vergebliches Warten und neue Hoffnung
So schnell es auf dem Bolzplatz aufgetaucht ist, so schnell ist das Team von "las voces del secuestro" auch wieder im Dunkel der Nacht verschwunden. Für einige Geiseln war es eine Nacht voller neuer Hoffnung, für andere eine weitere des vergeblichen Wartens auf eine Nachricht aus der anderen, der intakten Welt. Zwei Tage später findet die Redaktionskonferenz statt: Hoyos hört genau zu, was seine Studenten zu sagen haben. Am Ende legt die Mannschaft den Ort der nächsten Live-Sendung in der Nacht zum Sonntag fest. Es geht in die Provinz Arauca, einer der gefährlichsten Regionen des Landes. Eine Vorhut wird die stundenlange Reise mit dem Equipment durch das gefährliche Gebiet auf sich nehmen. Der Chef gibt ihnen einen guten
Rat: "Passt gut auf Euch auf, ich will Euch am Samstagabend wiedersehen."