Jedes fünfte Kind in Europa wächst in Armut auf - Caritas-Sozialexpertin im domradio-Interview

"Sie wissen es und schämen sich"

Jedes fünfte Kind in Europa wächst in Armut auf, so das Ergebnis eines am Montag veröffentlichten EU-Berichts. In Deutschland leben demnach zwölf Prozent der Kinder unter der Armutsgrenze. Vergleichsweise wenig also. Warum wir uns dennoch nicht zurücklehnen dürfen, erklärt im domradio-Interview Michaela Hofmann, Sozialexpertin beim Diözesan-Caritasverband des Erzbistums Köln.

 (DR)

domradio: Freuen sie sich, dass Deutschland unter den Ländern ist, die die geringste Kinderarmut in der EU aufweisen?

Michaela Hofmann: Mann kann sich darüber freuen, dass es bei uns nicht 20 Prozent sind, das ist richtig. Aber man muss die Zahlen auch relativieren. Wenn man sich die Ergebnisse in Nordrhein-Westfalen anschaut, sieht man: Hier ist jedes Vierte Kind betroffen. Also noch mehr, als die EU ausweist. Das liegt sicher daran, dass man verschiedene statistische Grundlagen hat.
Zahlen sind Anhaltspunkte - man darf sich aber auf keinen Fall zurücklehnen, in falscher Sicherheit wiegen und sagen, dass bei uns alles in Ordnung ist. Das stimmt so nicht.

domradio: Wie leben Kinder in Armut?

Michaela Hofmann: Sie werden ausgegrenzt. Ganz praktisch gesehen: Kinder aus Armutsverhältnissen haben keine Möglichkeit ins Kino oder ins Schwimmbad zu gehen. Ein Beispiel aus der Schule: Ein Kind berichtete uns einmal, es habe nicht an einer Klassenfahrt teilnehmen können. Die Mutter habe das nicht bezahlen können. Das Kind sei deshalb daheim geblieben und gegenüber der Schule habe es als Grund 'Krankheit' angegeben. Das zeigt: Die Kinder wissen, dass sie sich bestimmte Dinge nicht leisten können, sind nicht Teil der Klassenstruktur und müssen dann auch noch lügen. Ein weiteres Problem: Wir bekommen immer wieder mit, dass Eltern nicht genügend Geld haben, um ihren Kindern Essen mit zur Schule oder in den Kindergarten zu geben. All das ist für die Kinder eine schreckliche Lage. Sie sind nicht in der Lage, sich so zu entwickeln wie andere Kinder.

domradio: Der EU-Bericht zeigt: Die Hälfte der Kinder stammt aus Haushalten mit nur einem Elternteil (23 Prozent) oder aus großen Familien (27 Prozent)  - welche Schlussfolgerungen ziehen sie daraus?

Michaela Hofmann: Beide Gruppen - sowohl Alleinerziehende als auch große Familien - müssen unterstützt werden, zum Beispiel beim Thema Arbeitsplatz oder der Unterstützung der Kinder an der Schule.

Michaela Hofmann: Wer ist Schuld an dieser Armut in Deutschland?

domradio: Ich würde Schuld durch Verantwortung ersetzen. Und die ist sehr breit gestreut. Am einfachsten ist es natürlich zu sagen, dass nur die Politiker die Verantwortung tragen. Das stimmt zum Teil natürlich auch. Sie machen die Gesetze. Wichtig wäre es, dass sich Politiker aller Ressorts - Wirtschaft, Soziales, Gesundheit, Arbeit - zusammensetzen und gemeinsam überlegen, was man tun kann. Die Konzepte gibt es schon. Man muss sie nur umsetzen. Die Kinder, die wir jetzt nicht erreichen, sind die Erwachsenen von morgen.

Der EU-Bericht - Zahlen
Mittlerweile seien 19 Millionen Kinder in den Ländern der Union arm, sagte EU-Sozialkommissar Vladimir Spidla der Tageszeitung "Die Welt" (Montagsausgabe). Diese Zahl sei "alarmierend". Spidla bezieht sich dabei auf den neuen "Bericht über soziale Sicherheit" der EU-Kommission, der in dieser Woche der Öffentlichkeit vorgestellt wird.

In Deutschland leben demnach zwölf Prozent der Kinder unter der Armutsgrenze. Dies sei nach Dänemark und Zypern der niedrigste Wert in der EU, so Spidla. Dagegen würde in Polen und in Italien jedes vierte Kind in armen Verhältnissen aufwachsen.

Die Hälfte der Kinder unterhalb der Armutsgrenze stammten entweder aus Haushalten mit nur einem Elternteil (23 Prozent) oder aus großen Familien (27 Prozent). Kinderarmut stelle in Europa ein "großes gesellschaftliches Problem" dar, dass die Chancen für die Zukunft schmälere, warnte der Sozialkommissar.