Wenigstens war es heute Nacht nicht so bitter kalt. Schuldirektor Brian hat die Wärmestrahler an den Wänden, die man sonst aus Ferkelställen kennt, manche vergleichen sie hier auch mit einem Hähnchengrill, zwei Stufen höher stellen lassen.
Noch bevor um sieben Uhr das Hallenlicht eingeschaltet wurde und die ersten Handywecker Variationen aus den internationalen Hitlisten schepperten, hat sich Pater Hubert, der Geistliche aus dem Büro des Sportlehrers, an seinen alten Schlafplatz geschlichen. Vierzig oder sogar fünfzigjährige Priester müssen schon einen besonderen Faible oder eine besondere Berufung haben, um häufiger so eine Turnhallenjugendfreizeit mitzumachen, oder sogar Freude daran zu haben. In dem fortgeschrittenen Alter hat man doch die Vorzüge von Hotelzimmern eindeutig schätzen gelernt. Die Zentralheizung, den Kleiderschrank, weiße Handtücher, das weiche Bett mit frischem, weißem Plumeau, das reinliche Badezimmer, die warme Dusche auf dem Zimmer. Und und und. Stattdessen: Gedränge in der Gemeinschaftsdusche, besetzte Toiletten, harter Turnhallenboden und ständig und überall Lärm. Warum machen die Pfarrer und Pater das? Haben die es nicht so schon anstrengend genug? Warum scheint ihnen das sogar Spaß zu machen? Es sieht eigentümlich aus, wenn einige in schwarzer Soutane über die Isomatten und Schlafsäcke stapfen, das Brevier in der Hand. In einem romanischen Kreuzgang würden sie besser passen. Warum machen die das? Ich werde sie bald danach fragen.
Wenn ich die Augen aufschlage und die Stahlverstrebungen der Turnhallendecke sehe, packt mich persönlich nur noch Sehnsucht und Heimweh nach Zivilisation und Privatsphäre. Aber mosern gilt nicht. Aufgesprungen, statt Frühstücksbuffet mit gekochtem Ei und einer Auswahl an frischen Brötchen, eine Scheibe Weißbrotpampe in einem Nebenzimmer, das auch der Aufenthaltsraum für das Personal bei Aldi sein könnte. Tischdecke? Ist doch etwas für Warmduscher! Man weiß das, aber es fühlt sich doch noch einmal strenger an, das, was Opa einem schon erzählt hat, diese uralte Binse: „Man lernt die schönen Dinge des Lebens erst dann richtig schätzen, wenn man sie auf einmal nicht mehr hat".
Sonntagmorgen. Die Weltjugendtags-Ritter aus dem Erzbistum Köln sind wieder unterwegs. Zu Fuß durch Epping. Moderne Ritter könnten sie sein, weil sie ihre Köln und Deutschland Fahnen wie einen Lancelot Umhang hinter sich im Wind wehen lassen. Vorbei geht es an den einfachen, flachen Häusern mit den kleinen Vorgärten. Einige haben ihre Gärten mit Kunstrasen ausgelegt. In Melbourne ist Wasser knapp und teuer. Vorbei auch an Aldi, in Australien gibt es tatsächlich Aldi, das heißt für uns auch einmal eine Scheibe deutsches Schwarzbrot gegen Verstopfung und auch gegen Heimweh schon beim Frühstück, weiter vorbei an Shell und Mac Donalds, vieles ist am anderen Ende der Welt doch genauso wie zuhause.
Nicht weit von unserer Turnhalle ist die kleine Kirche der St. Peters Parish von Epping. Die Gemeinde vor Ort hat uns zum Sonntagsgottesdienst eingeladen. So fröhlich voll ist das Kirchlein vielleicht noch nie gewesen. Das Verhältnis der Pilger aus Deutschland zu den einheimischen Messbesuchern ist grob geschätzt 10 zu 1. Es gibt nur einen schüchternen Messdiener. Er sieht aus, als ob seine Eltern aus Mexiko eingewandert sind, ein kleiner zarter Kerl, der das schwere goldene Vortragekreuz zum Einzug des Priesters durch die Kirche trägt. Vielleicht hat er vor zwei, drei Jahren auch die ausgeschnittenen Papptafeln mit den Zahlen für die manuell zu bedienende Liedanzeige bekritzelt. Da verziert ein schwarzes recht abstraktes Krickelkrackel viele Zahlen. Damals konnte er nicht wissen, dass man auf die schwarzen Nummern nicht herum malen darf. Auch diese Kirche hat etwas von einem großen Wohnzimmer, auch hier durchgängig Teppich Auslegeware.
Der heimische Priester, ein gepflegter alter Herr, der sich ein Ansteckmikro leistet, freut sich über die vielen Gäste. Er hält eine rührende Predigt. In der bittet er alle Jugendlichen, den alten Menschen doch ein wenig Gehör zu schenken: „Hört euch doch einfach einmal an, warum uns älteren der Glaube so viel bedeutet". Ein, man könnte sagen, niederschwelliges Angebot, das nur zeigt, wie wenig die australische Jugend von der Kirche wissen will und wie wenig sie sich um den Glauben ihrer Großmütter und -väter schert.
Auf dem Parkplatz der Pfarrgemeinde gibt es einen kleinen Empfang. Tee, Gebäck, Gespräch mit den Einheimischen. Bunt und munter geht es zu. Es wird über Sport geredet, über die Unterschiede zwischen American und Australian Football, über Melbourne, wo ist was los, wo kann man gut ausgehen, was lohnt sich anzuschauen. Die Kirchbesucher hier freuen sich auf den Papst, und sie beruhigen uns: „Das wird schon. Kurz bevor der Papst kommt, drehen sicher auch die Medien hier auf. Und dann gibt es im ganzen Land nur noch ein Thema."
Australien sei eben schnelllebig. Man interessiere sich nicht sehr für das, was erst irgendwann kommen werde. Gegen Mittag erkunden wir die Shopping Mall in Epping, die eine exakte Kopie des Centros in Oberhausen zu sein scheint. Bleibt unklar, ob Oberhausen Epping kopiert hat oder umgekehrt. Natürlich ist das Quatsch. Das Vorbild dieser globalen Mall Kultur kommt sicher aus US-Amerika und hat die ganze Welt erobert. Überall das gleiche große Geschäft.
Was es hier nicht gibt? Ein Internetcafe. Das sei in der High Street, erklärt man uns, die wir dann auch im kalten Nieselregen durchstreifen und dann den kleinen schäbigen, verwohnten Internetladen entdecken. Hier hängen Jungmänner in ausgeleierten Lederimitatsesseln vor Bildschirmen, auf denen GI´s Bagdad stürmen. Kopfhörer aufgesetzt, geistesabwesend, offensichtlich in einer anderen Welt unterwegs. Diese Internetstube scheint wiederum eine Kopie aus irgendeinem Internetladen in Köln Ehrenfeld zu sein. Möglich sogar, dass die Jugendlichen hier gerade mit einem Mitspieler aus Köln, vielleicht aber auch aus Tokio, Moskau oder Detroit vernetzt sind und um Ranglistenpunkte in einer Spielwertung kämpfen. Die Mall, Aldi, Mac Donalds, der Internetladen. Global austauschbarer und verwaschener Kulturbrei. Und obwohl es regnet - und man heute nicht gerne draußen in Epping herum läuft, sitzt hier niemand von den Weltjugendtagspilgern vor einem Bildschirm herum. Die Jungs, die mit mir in diese Spielhölle aufgebrochen sind, setzen auch nur schnell ihre Grüße an die Familie und Freunde ab und verschwinden schnell.
Freizeitgestaltung in der Turnhalle oder auf dem Fußballplatz nebenan. Priester sind in Sporthosen geschlüpft und messen sich mit kraftstrotzenden Jugendlichen in einem flotten Spiel. Sie machen das gar nicht so schlecht. Wenn auch dann und wann die Grundschnelligkeit und Passgenauigkeit fehlt, so können sie im Punkt Ausdauer allemal mithalten. Als ich erstaunt nachfrage, erklären sie mir später, dass sie regelmäßig joggen. Ich bewundere dieses Durchhaltevermögen. Nach den kurzen Nächten mit kleiner Schnarchmusik, wäre mir jetzt durchaus nach einer Stunde Sonntagsnachmittagsruhe. Aber vor meiner Turnmatte baut sich gerade ein großer Stuhlkreis auf. Fünf Gäste aus der Nachbarschaft sind vorbei gekommen. Ein gemeinsames Sonntagssingen soll es geben. Die fünf leben in Australien, doch sie kommen aus Samoa. Das sieht man ihnen sofort an. Gesichter wie von Gaugin gemalt. Eine ozeanüberschreitende Begegnung der Kulturen beginnt nun. Wie exotisch. Kölsche Veddelslieder treffen auf „Samoa lo atunuu pele." Die Samoa Sänger antworten auf „Wir ston zusammen" mit einem „Alofa ia te oe - means I love you". Nachher werden die Texte und Noten ausgetauscht. Zuhause will man das ein oder andere Lied im eigenen Liederkreis üben und aufnehmen. Pfarrer Meiering lädt die fünf fröhlichen Gäste zum Abendessen ein: „We will share - our faith and some of our old bread," scherzt er. Und obwohl pünktlich um 22 Uhr in der Turnhalle das Licht ausgeschaltet wird, geht die Party im Nebenzimmer zur Küche bis Mitternacht weiter. Als ein rockender Tanzbär heizt Dominik Meiering die Stimmung an. Her mit der Luftgitarre! "You ´ll come waltzing Matilda with me".
Zwischen zwei Liedern eine erste Umfrage. Stellt Euch vor, ihr würdet jetzt eine Postkarte nach Hause schicken, was würdet ihr schreiben? Das Ergebnis: Begeisterung über die Gastfreundschaft, die netten offenherzigen Menschen, Begeisterung über den gemeinsamen Gottesdienst und die Begegnungen in der Pfarrgemeinde am Vormittag. Die Mädchen schwärmen von den süßen Pinguinen, den Koalas, die man streicheln durfte. Die Jungs haben schon längere Fachgespräche mit Altersgenossen über das beste Bier der Stadt geführt. Und der Weltjugendtag? Da sind sich die jungen Pilger aus Köln noch nicht einig. Vanessa meint eher kritisch, dass die Weltjugendtagsstimmung noch nicht da sei - besonders in der Stadt würde sie davon nichts merken. „Nur hier in der Turnhalle, da ist das super."
Sonntag 06.07.2008 (ergänzt)
Teil 3 - Die Ritter aus dem Erzbistum Köln
Früh am Morgen - Zeltlageratmosphäre wie im Pfadfinderlager an Pfingsten. Die ersten zehn Duscher haben noch warmes Wasser. Dann ist der Kessel leer. Zeit um ein Vorurteil zu widerlegen. Denn Spätaufsteher werden doch manchmal lahm oder eben auch Warmduscher genannt. Hier stimmt das nicht.
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