Nach dem PKK-Entführungsfall rückt zunehmend die Kurdenfrage in den Mittelpunkt - Türkei-Experte fordert im domradio Geberkonferenz

"Die Europäische Union ist gefragt"

Die Bundesregierung bemüht sich weiter mit Hochdruck um die Freilassung der drei in der Osttürkei entführten Bergsteiger. Geheimdienste sehen in der Unberechenbarkeit der PKK die größte Gefahr. - Unterdessen forderte Türkeiexperte Cemal Karakas im domradio-Interview die Europäische Union auf, sich grundsätzlich der Kurdenfrage in der Türkei anzunehmen.

 (DR)

"Die Europäische Union hat über den Hebel der Beitrittsverhandlungen mehr Einfluss als jeder Staat dieser Welt", so Karakas. Darüber hinaus sei es an der Zeit, eine internationale Geberkonferenz zu veranstalten.

"Die Kurden sind mit 35 bis 40 Millionen Menschen die größte Nation weltweit ohne Land." Seit Jahrzehnten kämpften sie um internationale Anerkennung. Und weil die Frage nicht die Türkei alleine betreffe, seien zahlreiche Staaten auf der ganzen Welt gefragt, sich eine Lösung zu überlegen.

Die Angst vor der Kurzschlusshandlung
"Wir wissen überhaupt nicht, wo und wie wir möglicherweise ansetzen könnten, um an die Entführer irgendwie heranzukommen", war aus Sicherheitskreisen am Montag in Berlin zu hören.  Ähnlich äußerten sich Geheimdienstler in der türkischen Hauptstadt Ankara. Habe es nach dem Kidnapping am Berg Ararat in der Osttürkei noch Hoffnungen auf ein schnelles Ende des Falles gegeben, müsse man nun von einem "total ungewissen Ausgang der Entführung ausgehen", war aus zuständigen türkischen Kreisen zu erfahren.

Die Unberechenbarkeit besteht nach Darstellung der Geheimdienstler darin, dass eine lokale PKK-Gruppe offenbar ohne Wissen ihrer Führungskader gegen die Deutschen vorgegangen sei. Aus Solidarität habe sich aber schnell die PKK insgesamt dem Vorgehen ihrer Provinzkommandantur angeschlossen. Die PKK-Spitze soll sich "nur vordergründig" von der Eigeninitiative ihrer Provinzgruppe distanziert haben.

Die Unsicherheit für die Bemühungen zur Freilassung der Geiseln ergebe sich auch aus den divergierenden Haltungen der einzelnen PKK-Flügel gegenüber der Bundesregierung in Berlin. Ferner bestehe die Gefahr, dass es zu einer "Kurzschlusshandlung" der Kidnapper kommen könnte. Sie könnten Gewaltanwendung als "letzte Lösung des Geiseldramas ansehen", erläuterten deutsche Geheimdienstler.

Entscheidende Rolle für türkische Armee
Neben den Bemühungen der Beamten des Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesnachrichtendienstes (BND) vor Ort wird der türkischen Armee die "entscheidende Rolle" in dem Drama zugewiesen. Die türkischen Streitkräfte, die ständig mit Härte gegen die PKK-Kämpfer vorgehen, "würden es sich bestimmt nicht nehmen lassen, unter allen Bedingungen den Entführungsfall zu lösen", war aus deutschen und türkischen Quellen gleichermaßen zu vernehmen.

Die Spezialkommandos der türkischen Armee könnten "die Befreiung der Bergsteiger schaffen", unterstrichen Offiziere in Ankara. Sie wiesen darauf hin, dass die Türken über ähnliche Kräfte verfügen wie das deutsche "Kommando Spezialkräfte" (KSK). Allerdings wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass die türkischen Soldaten "hart vorgehen könnten, ohne Rücksicht auf Verluste". Sobald die PKK-Entführer mit ihren Geiseln aufgespürt seien, würde die türkische Spezialeinheit "mit größter Wahrscheinlichkeit schnell zuschlagen".

Aus deutschen Sicherheitskreisen war zu erfahren, "dass ein solches Vorgehen unter allen Umständen vermieden werden muss, um das Leben der Deutschen nicht zu gefährden". Den Verantwortlichen in Berlin sei allerdings bewusst, wie schwer es werden könnte, die türkischen Soldaten von einem gewalttätigen Vorgehen gegen die PKK-Kidnapper zurückzuhalten.

"Edi bese" - "Jetzt reicht's"
Erhebliche Sorgen bereitet es, wie die zahlreichen in der Bundesrepublik lebenden Kurden auf ein Einschreiten der türkischen Streitkräfte reagieren. Innenstaatssekretär August Hanning hat keinen Zweifel daran gelassen, dass sich möglicherweise eine neue Gefahrenlage in Deutschland einstellen könnte. So werden neue Demonstrationen der 500 000 im Bundesgebiet lebenden Kurden befürchtet. Unter ihnen ist eine große Zahl von Extremisten. Der Bundesverfassungsschutz hatte festgestellt, die PKK verfüge in Deutschland weiter über einen "illegalen und konspirativ handelnden Funktionärskörper".

Erst im vergangenen Dezember hatten rund 10 000 Kurden in Düsseldorf für einen selbstständigen Kurdenstaat und für eine Beendigung der Angriffe der Türken auf ihre Landsleute in den Siedlungsgebieten im Osten der Türkei und im Nordirak lautstark demonstriert. Immer wieder skandierten sie: "Edi bese" - "Jetzt reicht's".