Moraltheologe Schockenhoff zu 40 Jahre Enzyklika "Humanae vitae"

Mut zu verlässlicher Bindung machen

Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff (55) äußert sich im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Freiburg zur Aktualität der in der Enzyklika "Humanae vitae - Über die rechte Ordnung der Weitergabe des menschlichen Lebens" von Papst Paul VI. behandelten Themen.

 (DR)

KNA: Herr Professor Schockenhoff, die vielfach vorgetragene Kritik an der Enzyklika entzündete sich vor allem am Verbot künstlicher Verhütungsmittel für die Geburtenregelung. Lässt sich die Enzyklika auf die Pillen-Problematik reduzieren?
Schockenhoff: Die Enzyklika «Humanae vitae» enthält über weite Strecken großartige Passagen über den Sinn der ehelichen Liebe. Ganz auf der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils wird darin der Eigenwert der Liebe zwischen Frau und Mann und die Würde ihrer sexuellen Gemeinschaft betont.

Leider wurde die Rezeptionsgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten fast vollständig von der negativen Aufmerksamkeit überlagert, die dem ausnahmslosen Verbot der künstlichen Empfängnisregelung zuteil wurde. Dazu hat die Enzyklika selbst Anlass gegeben, indem sie die künstliche Empfängnisregelung als innerlich ungeordnet und in sich verwerflich kennzeichnet.

Aus der Distanz von 40 Jahren muss man konstatieren, dass es dem kirchlichen Lehramt nicht gelungen ist, die eigenen Gläubigen von diesem Verbot zu überzeugen. Dabei sind die Vorteile der natürlichen Familienplanung durchaus anzuerkennen; diese ist mehr als nur eine Methode unter anderen, sondern ein kommunikativer Lebensstil der gegenseitigen Rücksichtnahme.

KNA: Das katholische Lehramt verbietet weiterhin künstliche Verhütungsmittel. Wie ist dass nach dem Auftauchen und dem verheerenden Wirken der Immunschwächekrankheit Aids zu rechtfertigen ?
Schockenhoff: Der Gebrauch eines Kondoms in der Absicht, dass ein Ehepartner sich vor der Infektion mit HIV-Viren schützt, verfolgt keine antikonzeptionelle, auf die Verhinderung einer möglichen Zeugung gerichtete Intention. Selbst wenn man die von «Humanae vitae» genannten Verbotsgründe für die ausnahmslose Verwerflichkeit der einen Handlungsweise für zwingend hält, ist damit über die andere noch nichts gesagt.

Es ist mir unverständlich, warum es vielen so schwer fällt, beides klar zu unterscheiden, obwohl es dafür innerhalb der kirchlichen Lehre durchaus Ansatzpunkte gibt. So gilt die therapeutische Sterilisation, die aus medizinischen Gründen notwendig ist, als erlaubt, sofern sie keine kontrazeptive Intentionalität aufweist. Der Schutz vor einer möglichen HIV-Infektion folgt in vergleichbarer Weise einer medizinischen Zielsetzung, die mit der künstlichen Empfängnisregelung im eigentlichen Sinn nichts zu tun hat.

KNA: Vielen Katholiken war und ist die moraltheologische Unterscheidung zwischen verbotener künstlicher Empfängnisverhütung und gestatteten natürlichen Methoden zur Regelung der Fruchtbarkeit in der Familienplanung nicht verständlich. Ist das wirklich so ein grundlegender Unterschied?
Schockenhoff: Wenn das wichtigste Element für die moralische Bewertung einer konkreten Handlung in der Intention liegt, die sie verfolgt, fällt es in der Tat schwer, zwischen beiden Methoden der Empfängnisregelung einen Unterschied zu sehen. Auf der Ebene des angewandten Mittels lässt sich jedoch argumentieren, dass das gewollte Ziel - der Ausschluss einer möglichen Zeugung - bei der natürlichen Familienplanung durch die willentliche Beherrschung des Sexualtriebes und die Rücksichtnahme auf den natürlichen Rhythmus der Frau erreicht wird, während dies im anderen Fall durch ein künstliches Mittel geschieht, das die Fähigkeit zur Rücksichtnahme, Selbstkontrolle und Verzicht tendenziell überflüssig macht.

Sowohl Papst Paul VI. als auch Papst Johannes Paul II. bewegte die Sorge, in der hedonistischen Kultur der modernen Wohlstandsgesellschaften könnte die Sexualität zu einer verfügbaren Ware oder zu einem Konsumgut werden. Auch wenn es in der kulturellen Wahrnehmung der Sexualität im Horizont der Gegenwart unübersehbare Anzeichen für eine derartige Entwicklung gibt, begründet die Befürchtung einer Gefahr noch nicht, dass ein verantwortlicher Umgang mit künstlichen Methoden von vornherein ausgeschlossen ist.

KNA: Die deutschen Bischöfe hatten in ihrem Kommentar zur Enzyklika, der «Königsteiner Erklärung», Seelsorgern geraten, eine mögliche Gewissensentscheidung von Eheleuten zu künstlichen Verhütungsmitteln zu respektieren. War und ist das ein gangbarer Weg?
Schockenhoff: Die Königsteiner Erklärung hatte bei ihrem Erscheinen eine wichtige pastorale Funktion, da sie den Gläubigen den Ausweg einer abweichenden Gewissensentscheidung aufzeigte, der es ihnen zugleich ermöglichte, ihre Loyalität zur Kirche und die Aufrichtigkeit ihrer Kirchenbindung zu bewahren. Damit hat sie in der damaligen erhitzten Debatte zur Beruhigung beigetragen. Allerdings hat diese pastorale Lösung das ethische Problem einer unzureichenden Begründung der vorgelegten Norm nicht wirklich gelöst. Das Gewissen ist kein Schlupfloch, durch das man moralischen Einsprüchen, wenn sie tatsächlich begründet sind, auf eigene Verantwortung entkommen könnte.

Wenn breite Kreise der Gläubigen die Gründe für das Verbot der kirchlichen Empfängnisverhütung nicht verstehen und dieses für ihr Leben als irrelevant ansehen, lässt sich diese Distanz nicht allein durch die Verschärfung des formalen Verpflichtungscharakters dieser Lehre und den Appell an die Gehorsamspflicht der Gläubigen beantworten. Vielleicht hatte Papst Benedikt XVI. dieses gestörte Vertrauensverhältnis im Blick, wenn er davon sprach, dass die christliche Sexualethik nicht zuerst Verbote ausspricht, sondern ein positives Leitbild darlegt. Zu Beginn seines Pontifikats führte er in mehreren Ansprachen an, dass der «systematische» Ausschluss von Kindern dem Sinn der ehelichen Liebe widerspricht. Dies lässt Raum für die Überlegung, dass es auf die grundsätzliche Bejahung von Kindern ankommt, hinter der die Frage der Zeugungsoffenheit jedes einzelnen sexuellen Aktes an Bedeutung zurücktreten kann.

Weil der willentliche und dauerhafte Ausschluss von Kindern mit dem Sinn der ehelichen Liebe unvereinbar ist, kann es so etwas wie eine verantwortliche Nicht-Elternschaft auf dem Boden eines biblischen Verständnisses von Sexualität und Ehe nicht geben.

KNA: In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich die Gesellschaft mit ihren Sexual- und Beziehungsvorstellungen stark geändert. Wie könnte ein neues päpstliches Lehrschreiben darauf reagieren und welche Schwerpunkte setzen?
Schockenhoff: Nach biblischem Verständnis ist Sexualität eine Kraft, die dem Menschen gegeben ist, damit er seine wichtigsten Lebensziele in Ehe und Familie erreichen kann. Diese Bindung der Sexualität an eine dauerhafte, verlässliche Liebe erscheint vielen Menschen heute als Überforderung. Sexualität soll Spaß machen, meinen sie, wer mehr von ihr erwartet, verdirbt sie nur. Hinter dieser Auffassung steht ein unzureichendes Verständnis der existenziellen Bedeutsamkeit menschlicher Sexualität. Sie hat nicht nur eine Lustdimension, sondern schenkt auch wichtige Grunderfahrungen des Lebens wie Geborgenheit, Treue und das Erleben der eigenen Bedeutsamkeit für den anderen; auch das Zusammenleben mit den eigenen Kindern und das Geprägtwerden durch die Rolle als Mutter oder Vater stellt eine existenzielle Bereicherung dar, die zur Sinnfülle der Sexualität dazugehört. Deshalb will die christliche Ethik vor allem Mut machen, Mut zur verlässlichen Bindung untereinander und Mut zur Familiengründung.