Erzbischof Zollitsch beim Bund der Vertriebenen - Rede im Wortlaut

"Jede Kultur beruht auf Erinnerung"

Der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch hat am Wochenende die Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen (BdV) erhalten. Bei dem Festakt zum diesjährigen "Tag der Heimat" äußerte sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz zur grundsätzlichen Bedeutung von Erinnerung und Aussöhnung und lobte die anstehende Errichtung der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert Auszüge der Rede.

 (DR)

"...Der Tag der Heimat steht in diesem Jahr unter dem Motto:
'Erinnern und Verstehen'. Ein tiefsinniges und weitblickendes Leitwort, das uns einmal mehr deutlich macht: Wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Wir leben nicht nur aus uns selbst, wir leben nicht als abgeschottete Monaden, sondern ein großes Stück weit von dem und aus dem, was vor uns war. Zu allen Zeiten haben große Denker darauf hingewiesen, dass wir Menschen und unsere Kulturen sich ihrer eigenen Wurzeln berauben, wenn wir unsere Geschichte und die damit verbundenen Traditionen vergessen. Ein Mensch setzt geradezu seine seelische Gesundheit aufs Spiel, wenn er meint, seine Lebensgeschichte hinter sich abschneiden zu können. Was - das sei am Rande bemerkt - letztlich gar nicht möglich ist. Eine Religion entartet zur Ideologie, wenn sie sich ihres Ursprungs nicht mehr erinnert. Jede Kultur beruht auf Erinnerung. Sie beginnt mit Erinnerung. Sie will freilich immer auch darüber hinaus, ja, sie muss sich weiter entwickeln, aber sie hätte ohne diesen Anfang nicht einmal begonnen. (...)

Wir können Geschehenes nicht ungeschehen machen. Das müssen wir in unser Gedenken, in unsere Erinnerung und Trauer hinein nehmen. Wer all die menschlichen Schicksale, das vielfältige Leid, die unfasslichen Geschehnisse um unsere Landsleute verdrängt, der macht sie ein weiteres Mal zu Opfern, zu Opfern des Vergessens. Gerade weil wir in Europa immer mehr in Frieden, gegenseitiger Achtung, Freiheit und Gerechtigkeit zusammenleben wollen, dürfen wir die Vergangenheit nicht vergessen und verdrängen, sondern müssen uns ihrer erinnern und sie verstehen lernen.(...) Um der Zukunft willen brauchen wir eine behutsame und ehrliche Aufarbeitung der eigenen wie der gemeinsamen Geschichte und Vergangenheit. Wir brauchen auf dem Weg in eine menschenwürdige und lebenswerte Zukunft notwendig Orte der Erinnerung und immer wieder Zeiten und Begegnungsräume der geistig-geistlichen Vergewisserung. Vor allem brauchen wir ein wachsendes Verständnis für die unterschiedlichen Sichtweisen und deshalb eine konstruktive Dialog- und Vermittlungskultur. Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der ist anfällig für neue Grausamkeiten. Diese grundlegende menschliche Erfahrung will uns das bekannte jüdische Sprichwort ins Bewusstsein
rufen: 'Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.'

Das Vorhaben der Bundesregierung, in Berlin ein 'Sichtbares Zeichen'
gegen Flucht und Vertreibung und dazu die Stiftung 'Flucht, Vertreibung, Versöhnung' zu errichten, ist ein wichtiger Beitrag zu einer verstehenden Erinnerung und ein verantwortungsbewusster Akt der Solidarität mit den Betroffenen. Alle Opfer von Vertreibungen und Genozid, von Menschenrechtsverletzungen jeder Art brauchen einen Platz im historischen Gedächtnis, auch die Millionen deutscher Heimatvertriebener. Diesen Teil unserer Geschichte, der zugleich auch Teil der europäischen Geschichte ist, gilt es in aller Sachlichkeit, Wahrhaftigkeit und Sensibilität aufzunehmen und im allgemeinen Bewusstsein präsent zu halten.

Ich bin überzeugt: Das 'Sichtbare Zeichen' wird einer verkürzten Sicht auf die europäische Geschichte, vor allem auf die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges in keiner Weise Vorschub leisten. Es will mahnen, nicht provozieren. Man kann die Vertreibung der Deutschen am Kriegsende nicht verstehen, ohne auf die Geschichte der Vertreibungen in Europa und die dahinter liegenden Ideologien des ethnischen Nationalismus zu blicken. Man kann die Vertreibung unserer Landsleute auch nicht begreifen, ohne sich die Verbrechen vor Augen zu führen, die während der Nazi-Herrschaft im deutschen Namen und von Deutschen verübt wurden - vor allem der Völkermord an den Juden und der Vernichtungskrieg im Osten. All dies wird und muss auch im Zusammenhang mit dem 'Sichtbaren Zeichen' erinnert werden, ohne damit jedoch jene Opfer zu legitimieren, die von den deutschen Vertriebenen am Ende des Krieges erbracht werden mussten.(...)

Das 'Sichtbare Zeichen' wird vom deutschen Staat verantwortet.
Gleichwohl ist es richtig, dass eine angemessene Beteiligung von Repräsentanten der Heimatvertriebenen in den Gremien dieser Ausstellungs-, Informations- und Dokumentationsstätte vorgesehen ist. Das 'Sichtbare Zeichen' in Berlin sollte aber - wo immer dies möglich ist - mit anderen Gedenkorten gegen Krieg und Vertreibungen in Europa vernetzt werden. Denn die Brücken zwischen den Menschen, Völkern und Nationen in Europa sind umso tragfähiger, je offener dieser Dialog geführt wird. In vielen europäischen Ländern ist diese Bereitschaft vorhanden.

Das Bewusstsein, dass Europa wesentliche Impulse für seine Entwicklung aus den religiösen Traditionen des Christentums und des Judentums erhalten hat, stellt die Gläubigen heute vor die Verantwortung, an der Gesundung Europas mitzuwirken. Denn das 'Haus Europa', wie die Gemeinschaft unseres Kontinents gerne genannt wird, ist nur dann für alle ein gut bewohnbarer Ort, wenn es auf einem soliden kulturellen und moralischen Fundament von gemeinsamen Werten aufbaut; Werte, die wir aus unserer Geschichte und unseren Traditionen gewinnen. Europa kann und darf seine christlichen Wurzeln nicht leugnen. Sie sind ein Ferment unserer Zivilisation, sie sind verlässliche Orientierung und zukunftsweisender Richtungsanzeiger auch im dritten Jahrtausend.(...)

Der Kirche ist eine tragfähige Aussöhnung auf der Grundlage des christlichen Glaubens aufgegeben. Das schließt ein, historische Wahrheit und Gerechtigkeit zu fördern und das Bewusstsein für das Unrecht jeder Vertreibung auszubilden. Immer wieder hat unsere Kirche auf die Bedeutung der Heimat für den Menschen hingewiesen.
Menschen schöpfen aus gesunder heimatlicher Verwurzelung Lebensfreude und Zukunftshoffnung. Heimat gehört zum Menschen und seiner Geschichte und darf niemandem gewaltsam genommen werden.
Ideologien, die Vertreibungen fordern oder rechtfertigen, richten sich letztlich gegen die Würde des Menschen. Deshalb ist es ein Gebot der Menschlichkeit, Vertreibungen und Menschenrechtsverletzungen jeder Art weltweit zu ächten und als Mittel der Politik zu verurteilen.(...)

Es gibt eine Solidargemeinschaft nicht nur im Glück und im Erfolg, sondern auch im Leid und im Gedenken, in der Verständigung und in der Pflege einer friedlichen Nachbarschaft zwischen Deutschen und den Menschen in den anderen Ländern Europas und in der Welt. Es braucht eine Solidargemeinschaft des gemeinsamen Erinnerns und des gegenseitigen Verstehens. Daher haben alle Generationen die Verantwortung, die Erinnerung an die Ursachen, Geschehnisse und Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkrieges wie auch von Flucht und Vertreibung wach zu halten. Wir haben Sorge dafür zu tragen, dass es nie wieder dazu kommt.(...)

Die Heimatvertriebenen waren in vielem ihrer Zeit und so manchem ihrer Zeitgenossen voraus. Sie waren nicht nur Vordenker für ein geeintes Europa, sondern sind 'Brückenbauer' und natürliche Übersetzer des Verständigungswillens. Sie leisten unverzichtbare Friedensarbeit und materielle Hilfen für die Menschen in den Ländern ihrer alten Heimat.(...)

Ein wichtiger Beitrag unseres christlichen Glaubens zur Erinnerungs- und Versöhnungskultur sowie zum Dienst am Frieden besteht darin, auch die Frage nach den Toten und ihrem Schicksal wach zu halten, auch und gerade nach den Verschollenen und den Namenlosen, die meist menschenunwürdig in fremder Erde beerdigt wurden. Die Hoffnung auf ewiges Leben umspannt die Lebenden und die Toten und vereinigt sie zu einer Gemeinschaft, die auch der Tod nicht auseinander zu reißen vermag. Christen als Gemeinschaft der Glaubenden sind deshalb 'Träger' eines fortdauernden kulturellen Gedächtnisses über den Wechsel der Zeiten hinweg. Christen gedenken der Toten, weil sie leben, und nicht, damit sie leben. Christen sind eine Erinnerungsgemeinschaft und die Bibel ist das große Erinnerungsbuch schlechthin - das große Epos des Zueinanders und Miteinanders von Gott, Mensch und Schöpfung.(...)"