Erzbischof Zollitsch mahnt missionarische Grundhaltung an

Die Eröffnungsrede in Fulda

In seiner Eröffnungsrede formulierte Erzbischof Zollitsch unter zahlreichen Bezügen auf den Apostel Paulus und das derzeit laufende Paulusjahr "Überlegungen zum missionarischen Dialog der Kirche mit unserer Zeit" und bezeichnete Deutschland als "Missionsland". Dem müsse sich die Kirche mutiger stellen. Eine Dokumentation einiger Passagen der am Montag in Fulda vorgetragenen Rede, zusammengestellt von der KNA:

 (DR)

«(...) Eine Pastoral des Nachgehens muss auf neue Weise die Seelsorge und das Leben der Kirche prägen. (...)

Es stimmt, dass der moderne Individualismus im Sinne einer Überbewertung des Individuums die gegenwärtig sogenannte «Erfindung des 'eigenen Gottes'» (Ulrich Beck) zur Konsequenz hat. Sie ist eine Art Selbstvergötterung des Individuums, bei welcher der Mensch in gewisser Weise Glaubender und Gott zugleich ist. Die herausragende Stellung des Individuums wird nicht mehr, wie es in der persönlichen Ansprache des Einzelnen durch Gott grundgelegt ist, kultiviert und in den Horizont der größeren Gemeinschaft gestellt, sondern verabsolutiert. Als Folge zeigt sich bei uns unter anderem eine gewollte Herauslösung des Einzelnen aus den ihm vorgegebenen und ihn tragenden Traditionen. Diese Enttraditionalisierung belegen hinsichtlich des Glaubens bzw. der religiösen Überzeugungen zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahre, die immer wieder zwei Ergebnisse zeigen: Einerseits haben viele Menschen ein ausgeprägtes Interesse an einem Transzendenzglauben; andererseits geht dies aber oft mit einer sehr willkürlichen Komposition der Glaubensinhalte einher - und dies ganz nach Geschmack des Individuums, das in diesem Sinn selbst Richtmaß des Glaubens wird. Das Resultat ist ein buntes Potpourri an Glaubensauffassungen und religiösen Vorstellungen, auch bei Katholiken. (...)

Die eher Konservativen hoffen darauf, dass die Kirchen wie bislang Werte generieren und vermitteln können. Und den Linken und Liberalen gelten sie als relevanter Teil der sogenannten Zivilgesellschaft, die einen wertebestimmten gesellschaftlichen Zusammenhalt schaffen soll. Solche Erwartungen haben durchaus ihre Berechtigung. Das Wirken der Kirche will ja tatsächlich die Menschen zu verantwortungsbewusster Freiheit und solidarischem Miteinander befähigen und bewegen. Insofern ist die Kirche nützlich für die Gesellschaft und will es auch sein. Doch steckt dahinter auch eine eminente Gefahr: Am Ende drohen Selbstsäkularisierung und Selbstaufgabe, wenn die Kirche ihr Selbstverständnis einfach den von außen an sie herangetragenen Funktionszuschreibungen anpassen würde.
Ihr geht es auch um Werte. Aber eben nicht nur und nicht zuerst.
Ihre Botschaft ist die lebendige Verheißung Gottes an den Menschen, wofür der heilige Paulus ein beredter Zeuge ist. Deshalb und in diesem Zusammenhang spricht die Kirche von der rechten Ordnung der Gesellschaft, von Werten, Tugenden und Normen. Die Kirche ist nicht der Dienstleister der Gesellschaft, sondern macht den Dienst Gottes an den Menschen präsent. (...)

Den Versuchungen, die für die Kirche damit einhergehen, dass sie als Wertelieferant der Gesellschaft verstanden wird, dass sie auf die Funktion als «Bundesagentur für Werte» reduziert wird, ist dann beizukommen, wenn sie auch das in die Gesellschaft hineinträgt, was nicht den Erwartungen entspricht und nicht unbedingt den reibungslosen Gang der Dinge befördert. Denjenigen, die den Einsatz der Kirche für Ehe und Familie rühmen, müssen immer wieder auch die Rechte der Migranten auf Zusammenführung ihrer Familien in Erinnerung gerufen werden. Diejenigen, die sich auf den Gerechtigkeitsimpuls der katholischen Soziallehre berufen, müssen auch auf die Rechte der ungeborenen Kinder hingewiesen werden.
Wirtschaftsvertretern, die im christlichen Menschenbild des schöpferischen Individuums zu Recht eine Grundlage für eine freiheitliche und marktorientierte Wirtschaft sehen, darf der Einwurf nicht erspart bleiben, dass die Wirtschaft nach kirchlicher Lehre menschenförmig und nicht der Mensch wirtschaftsförmig gemacht werden muss. (...)

Kirche will mehr und mehr zum Ort werden, der Raum gibt, um zu den eigentlichen Fragen und den Gründen des Lebens vorzudringen, die den Menschen helfen, die Frage nach Gott zuzulassen, nach Gott zu fragen in einem Umfeld, das auf oberflächliche Unterhaltung, Fun, Zerstreuung und Events ausgerichtet ist. Kirche ist zwar nicht für alles, aber für alle da, die sich einen Funken Neugier an Gott erhalten haben. (...)

Eine Kirche, die vorrangig an die Gehorsamspflicht des Menschen appellieren würde, hätte in Anbetracht des gegenwärtigen Individualismus wenig Aussicht auf Gehör. Vielmehr braucht es die Ansprache und Bekehrung des Herzens, die Erfahrung, dass der Glaube nicht einengt, sondern ein Geschenk ist, dass frei macht und Halt gibt. (...)

War früher der Glaube in gewisser Weise für viele gesellschaftlich getragen und daher nahezu selbstverständlich, so ist es heute in der Tat notwendig, zu lernen, über den eigenen Glauben und Fragen des Glaubens miteinander ins Gespräch zu kommen, miteinander zu glauben, den Glauben zu teilen, den Glauben des anderen mitzutragen. Bei Besuchen in anderen Ländern und Kontinenten - etwa in Südamerika, in den USA oder Südkorea - konnte ich die Erfahrung machen, wie selbstverständlich es dort für die Katholiken ist, über ihren Glauben zu sprechen. Wie schwer fällt es uns Deutschen dagegen, die offene Flanke zu zeigen und uns als Glaubende zu outen! Wie viel haben wir gerade in diesem Bereich noch zu lernen! Die Fähigkeit, über den Glauben sprechen zu können, will eingelernt, ja fast geübt werden. «Deswegen muss die Sorge der Kirche sein, Weggemeinschaften zu schaffen. Sie wird neue Weisen der Weggemeinschaft bilden müssen, die Gemeinden werden sich stärker gegenseitig, miteinander tragend und im Glauben lebend gestalten müssen. So müssen sich Christen wirklich untereinander stützen», so Papst Benedikt XVI. in seinem Buch «Salz der Erde». Dies ist eine Herausforderung, der sich auch die erwachsene Generation zu stellen hat. Deshalb wird es für unsere Gemeinden notwendig, ja überlebens-notwendig, sein, sich hierfür Räume zu schaffen. Nicht wenige suchen in Glaubenkursen und Gruppen, in denen sie sich gemeinsam auf ihren Glauben besinnen und über ihn sprechen, Vertiefung für ihren Glauben. Für diese Menschen da sein zu können, ist entscheidend. (...)

Der Ruf der Stunde heißt: zusammenarbeiten, einander ergänzen, voneinander profitieren, den anderen mittragen. Die vielen hauptberuflichen und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in unserer Kirche heute engagieren, sind ein großes Geschenk des Herrn an uns. Dafür dürfen wir dankbar sein. Sie sind eine wertvolle Vorgabe für uns, um aktiv nach vorne zu schauen und offensiv den Glauben weiterzugeben, denn: «Deutschland ist Missionsland.» (...)

Darum ist es wichtig, dass wir uns in unserer Gesellschaft weiterhin und gegebenenfalls verstärkt zu Wort melden: mit klaren Aussagen zu den Werten, aus denen wir leben und die uns tragen; mit prophetischer Kritik, wo Gottes Weisungen und Vorgaben ignoriert werden; mit herausfordernden Perspektiven, wo manche nicht über den Tag hinaus denken. Wir haben unserer Welt und unserer Gesellschaft Entscheidendes zu sagen. (...)