In Frankreich kommen Kastanien zu neuer Ehre

Brotbaum einer ganzen Region

In Dournazac ist die "France rurale", das ländliche Frankreich, noch in Ordnung -und ein ganzes Dorf in Aufregung: Am letzten Oktoberwochenende findet in Dournazac, an der Grenze zwischen Limousin und Dordogne, das "Festival de la Chataigne" statt - ein Hoch auf die Kastanie.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
 (DR)

Über Jahrhunderte ein nahrhaftes Arme-Leute-Essen - gestampft in heißer Milch oder gewürzt aus der Pfanne, dann weitgehend vergessen, feiert die schrumpelige Frucht im Stachelkleid heute eine gastronomische Renaissance.

Von der Weltproduktion von jährlich 50-60.000 Tonnen stellt Frankreich inzwischen wieder 10.000 Tonnen her, vor allem in den benachbarten Departements Correze, Haute Vienne und Dordogne, auf Korsika und in den Cevennen. Doch allein um die Bedürfnisse seiner eigenen Feinschmecker zu decken, muss das Land noch zusätzlich 12.000 Tonnen importieren - und ist damit bei weitem der größte Kastanien-Importeur Europas. "Die Kastanie enthält alle wichtigen Nährstoffe", erläutert Jean Pierre Fauriac, Präsident der Maronen- und Kastanienvereinigung des Limousin. "Kohlehydrate, Proteine, so viel Vitamin C wie Zitronen, Fette, Mineralsalze und noch mehr Kalorien als Kartoffeln - alles, was es braucht."

"Ich bin verliebt in Kastanien"
Das meint auch Jacques Deconchas, Küchenchef im Örtchen Oradour sur Vayres. In seinem Restaurant serviert er im Herbst einen Geheimtipp, sein ebenso deftiges wie liebevoll zusammengestelltes Menü: Da gibt es eine Kastanien-Quiche, eine Kalbsroulade mit Kastanien und Pilzen, einen Salat mit Kastanienblutwurst und frischen Kastanien - und zum guten Schluss natürlich eine Kastaniencreme. "Ich bin verliebt in Kastanien", sagt der 49-Jährige verstohlen, wenn seine Gattin gerade nicht zuhört. "Damit kann man alles machen."

Was er damit alles macht, präsentiert Deconchas auch in Dournazac - und räumt damit Jahr für Jahr Preise im "concours gastronomique" ab.  In diesem Jahr gibt es in dem winzig kleinen Gemeindesaal verschiedene Kastanien-Tartes zu probieren: mit Steinpilzen, mit Lachs, mit Kürbis und Karotten. Die Hausfrauen nicken begeistert, und die Herren der Schöpfung mit ihren Strickwesten und Schiebermützen blicken hoffnungsvoll zu den Hausfrauen hinüber:  Bitte nachmachen!

Dournazac mit seinen rund 800 Einwohnern liegt im "Pays des Feuillardiers", im Herzen des Nationalparks Perigord-Limousin, der über 23.000 Hektar Kastanienbestand verfügt. Seinen Namen hat das Ländchen von einem Beruf, der die Region mitgeprägt hat.  "Feuillardiers", das sind Waldarbeiter, Schnitter von Kastanienholz.  Größtenteils Bauern, verbrachten sie früher zu Tausenden den Winter im Wald. Im Schutz selbst gebauter, provisorischer Schutzhütten aus ein paar Latten und Reisig schnitten sie Kastaniensprosse zu; ein ziemlich hartes Brot. Einige dieser "cabanes des feuillardiers" zeugen noch heute davon.

Im antiken Griechenland als "Eichel des Zeus" bekannt
Schon im antiken Griechenland war die Kastanie als "Eichel des Zeus" bekannt. Die Römer brachten sie als "castanea" aus Kleinasien nach Frankreich, wo sie rasche Ausdehnung fand. Im zwölften Jahrhundert waren 40 Prozent der Gesamtfläche der Limousin-Region von Kastanienwäldern bedeckt. Die Kastanie, die zur Familie der Buchengewächse gehört, war für die Menschen der "Brotbaum". Sie trug ihre nahrhaften Früchte, aus denen man zudem Mehl gewinnen konnte - und mit ihrem Holz sorgte sie für einen wichtigen Nebenerwerb. Sie prägte viele Orts- und Flurnamen: Chatenet, Chatain, Le Bost, Chastagnac, Chastaing. Erst Ende des 18. Jahrhunderts ging allmählich das Interesse an der Kastanie verloren: Mais und Kartoffeln lösten sie als Grundnahrungsmittel ab.

Das Festival von Dournazac, das schon seit über 30 Jahren stattfindet, macht das kleine Dorf für einige Tage im Jahr zur selbsternannten "Hauptstadt der Kastanie". "Kommen Sie, probieren Sie", tönt es allenthalben; "alles hausgemacht". Hier hat man noch das "quart d'heure limousin", das Viertelstündchen zum Plausch oder zum Fachsimpeln über eine enorme Vielfalt an Produkten:  Kastanien-Likör, der einem trockenen Weißwein die herbstliche Note gibt; Kastanienbier; Kastanienblutwurst, -honig, -mehl und -marmelade; Kastanien eingelegt in Cognac, Armagnac, Calvados. Dazu Nüsse, Steinpilze, Schinken und Salami - und der Duft von frischem Brot.

Auch unter den Kastanien selbst gibt es für den Experten große Unterschiede. 150 Arten gibt es in Europa, allein 30 in der Region.
Vor allem aber unterscheidet man zwischen der "chataigne", deren stachelige Schale eine mehrteilige Frucht aus zwei oder mehr Kastanien enthält - und der "marron", der einteiligen und damit leichter zu verarbeitenden Frucht. Einer der alten okzitanischen Merksprüche der Region lautet: "Drei Kastanien in einer Schale, das ist ein gutes Jahr. Aber drei Frauen in einem Haus, das ist ein ruiniertes Haus."