Chinesischer Dissident Wei Jingsheng zum Sacharow-Preis Hu Jias

"Europa muss zu China mit einer Stimme sprechen"

 (DR)



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Von Klaus Nelißen (KNA)

Wei Jingsheng (58) war 1996 der erste Sacharow-Preisträger aus China. Damals zählte er zu den bekanntesten Dissidenten und war seit
17 Jahren in Haft. Auf internationalen Druck kam er 1997 frei und setzt sich seitdem aus dem Exil in den USA für ein demokratisches China ein. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur
(KNA) spricht er über die Rolle des Preises für seine Friedensarbeit und über seine Enttäuschung über den Kurs des Westens gegenüber China.

KNA: Herr Wei, spätestens seit der Verleihung des Sacharow-Preises
1996 sind Sie einer der bekanntesten Dissidenten Chinas. Haben Sie den diesjährigen Preisträger Hu Jia, der als zweiter Chinese den Preis erhält, je kennenlernen können?

Wei: Nein, das ist ausgeschlossen. Wenn ich ihn treffen oder auch nur irgendeinen Kontakt mit ihm aufnehmen würde, wäre er in noch größeren Problemen als jetzt schon. Was seinen derzeitigen Arrest so skandalös macht, ist, dass er zu den Bürgerrechtlern gehört, die eigentlich immer im Rahmen des chinesischen Rechts handelten. Seine Bürgerrechtsarbeit war wesentlich unpolitischer als meine. Uns alle hatte überrascht, dass er inhaftiert wurde. Um ihn und seine Arbeit nicht in Gefahr zu bringen, halte ich Abstand zu allen Bürgerrechtlern, die noch im Land sind.

KNA: Wie war das, als Sie damals den Preis bekamen?

Wei: Zur Zeit der Preisverleihung saß ich noch in Haft. Ich kannte den Preis vorher nicht. Aber ich kannte Sacharow - und viele Chinesen kennen den bekanntesten Dissidenten der damaligen UdSSR.
Einer im Gefängnis las in der amerikanischen Zeitung «USA Today», dass ich den Preis bekam und meinte: «Wenn Du den Preis von Sacharow bekommst, dann bist Du ja auch ein Dissident». Das meinte er anerkennend. Der Sacharow-Preis gab mir internationale Anerkennung und erhöhte den Druck auf meine Freilassung. Natürlich verfolgen viele Chinesen nicht das internationale Geschehen, sie verfolgen auch nicht die Politik in China. Aber die Gruppe derer, denen Sacharow etwas sagt, ist nicht zu unterschätzen. Insofern half er mir und hilft er mir, meinem Kampf für die Menschenrechte in China eine Stimme zu verleihen.

KNA: Dieses Jahr war ein bewegtes Jahr in den europäisch-chinesischen Beziehungen. Sind Sie froh über die Rolle, die Europa gespielt hat, auch während der Olympischen Spiele?

Wei: China hat die Welt während der Spiele nicht für sich gewinnen können. Das hat eine innerchinesische Bewertung ergeben. Aber auch die USA und Europa haben ihre Ziele nicht verwirklicht. Die Spiele wären eine große Chance gewesen, China einen wirklichen Schritt in Richtung Menschenrechte abzuverlangen. Aber weil Europa und die USA in der China-Frage uneins waren, wurde diese Chance vertan. Bush war enttäuschend und auch Sarkozy hat durch seinen unsteten Kurs keine gute Figur gemacht. Deutschland war eines der wenigen Länder, die an ihrem Kurs festgehalten haben, und Frau Merkel genießt großen Respekt unter den Freiheitsliebenden in China. Die 27 Länder der EU müssen endlich einsehen, dass sie als einzelne Länder gegenüber China nichts ausrichten können. Nur mit einer Stimme können sie klar sprechen. Und es wäre gut, wenn Deutschland diese Stimme führen würde.

KNA: Anlass für Konflikte mit China sind unter anderem die Beziehungen Europas zum Dalai Lama. Wie wichtig ist Religionsfreiheit im Kampf um Menschenrechte in China?

Wei: Der Einsatz für die Freiheit des religiösen Bekenntnisses liegt im Herzen der Menschenrechtsbewegung Chinas. Meiner Meinung nach gehen von dieser Freiheit andere wie das auf freie Rede oder die Versammlungsfreiheit aus. Sie alle beziehen sich letztendlich auf den neuralgischen Punkt: die Freiheit der Religion. Ohne diese Freiheit kommt man zu keinem Frieden. Das ist der Grund, warum die Kommunistische Partei solche Angst vor dem Dalai Lama hat. Religion könnte die Menschen dazu bewegen, Opfer zu bringen für die Idee, der sie nachfolgen. Die Religion richtet die Menschen auf, und das will die Partei verhindern.