Pfarrer Führer über die Wiedervereinigung

"Zu schnell verwirklicht"

Christian Führer ist eines der bekanntesten Gesichter der Wende. Als einer der Initiatoren der Montagsdemonstrationen in Leipzig trug er entscheidend zum Ende der DDR bei. 20 Jahre später, kritisiert der frühere Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche, ist die friedliche Revolution noch nicht vollendet.

 (DR)

"Der zweite Teil der Revolution hat noch nicht stattgefunden", sagte der Theologe dem Berliner "Tagesspiegel" zum beginnenden Gedenkjahr 2009. Das politische System der Bundesrepublik sei noch zu sehr mit der kapitalistischen Marktwirtschaft verbunden. Diese "gnadenlose Leistungsgesellschaft" habe aber "eigentlich nichts Demokratisches an sich".

"Die Billionen Dollar, die täglich elektronisch durch den Äther sausen und nirgendwo eine Deckung haben, sind Symptome einer kranken Gesellschaft", so Führer mit Blick auf die derzeitige Finanzkrise. "Wir können nicht einfach alles blind wachsen lassen wie ein Krebsgeschwür." Eine Gesellschaft, die angeblich nur mit jährlich zwei Prozent Wachstum funktioniere, sei "besinnungslos".

"Eine passendere Wirtschaftsform finden"
Die Aufgabe des zweiten Teils der friedlichen Revolution sei es, auf gewaltlosem Wege "eine der Demokratie passendere Wirtschaftsform zu finden", die mehr Beteiligung aller Bürger als bisher garantiere, unterstrich Führer. Der heute im Ruhestand lebende Theologe war bis zum vergangenen Jahr fast drei Jahrzehnte lang Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche. Die dort schon vor dem Mauerfall jahrelang angebotenen Friedensgebete waren im Herbst 1989 einer der maßgeblichen Ausgangspunkte für die Demonstrationen, die zum Sturz der SED-Herrschaft und zur Grenzöffnung führten.

Führer rief dazu auf, statt Waffen "den Geist der friedlichen Revolution" als deutsches "Alleinstellungsmerkmal" zu exportieren. Alle geteilten Länder wie Korea, aber auch afrikanische und südamerikanische Staaten interessierten sich "für die Selbstbefreiung aus der Diktatur ohne Hilfe von Dollar und Dax, ohne Sowjetskaja Armija oder US-Armee".

Aber auch in der Bundesrepublik selbst sei es wichtig, sich des gewaltfreien Sturzes einer Diktatur als einem "bislang einmaligem Geschehen in unserer politischen deutschen Unheilsgeschichte" stärker zu erinnern. "Es ist für die Menschen in Deutschland wichtig, eines positiven Datums zu gedenken." Kriege und Vernichtung von Menschen dürften nicht verdrängt werden, "aber das ist Gottseidank nicht das Einzige, was wir in unserer Geschichte haben", so Führer.

"Natürlich musste diese Chance genutzt werden"
Erneut bedauerte der Leipziger Theologe, dass die ursprünglichen Anliegen der Bürgerrechtler im Herbst 1989 vom Mauerfall am 9. November beiseite gedrängt wurden. Die Wiedervereinigung sei daher zu schnell gekommen. "Natürlich musste diese Chance genutzt werden", aber es hätte auch ein rechtlicher Rahmen genügt "mit dem Vermerk: Tritt in Kraft - in fünf Jahren."

Dem 20. Jahrestag von friedlicher Revolution und Mauerfall sind 2009 bundesweit zahllose Veranstaltungen gewidmet. Wie eine Forsa-Umfrage für die "Berliner Zeitung" (Freitagsausgabe) ergab, ist die Euphorie unter den Deutschen über den Mauerfall 1989 mittlerweile weitgehend verflogen. In Ost und West hätten sich demnach viele Befragte enttäuscht über die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre gezeigt.

Während 1989 im Osten Deutschlands 71 Prozent erwarteten, das sich ihre persönlichen Lebensverhältnisse verbessern würden, sagten heute nur noch 46 Prozent der Befragten, dass dies auch tatsächlich eingetroffen ist. Im Westen der Republik seien es aktuell sogar nur 40 Prozent gegenüber 52 Prozent im Jahr 1989. Jeder vierte Ostdeutsche meine, dass es den Menschen in den neuen Bundesländern heute schlechter gehe als vor 1989. Zu den Gewinnern der Einheit zählten sich 39 Prozent der Ostdeutschen.