Frankreich sucht eine Welle antisemitischer Übergriffe heim

Mit der Friedens-Zeder fing es an

Der Krieg im Gazastreifen ist über 3.000 Kilometer entfernt - und doch scheint er in Frankreich derzeit gefährlich nahe. Fast täglich gibt es Berichte über Angriffe auf jüdische Einrichtungen. Als eine der ersten war die "Friedens-Zeder" in Lyon betroffen. Unmittelbar nach den ersten israelischen Angriffen auf Gaza sägten Unbekannte den Baum ab, den die französische Stadt zu Ehren des 1995 ermordeten Friedensnobelpreisträgers Jitzak Rabin gepflanzt hatte. Seitdem vergeht kaum ein Tag ohne Gewaltmeldungen.

Autor/in:
Klaus Nelißen
 (DR)

Während in Deutschland auf den Straßen zumeist friedlich gegen den Krieg im Gazastreifen demonstriert wurde, fielen in Frankreich schon Molotow-Cocktails gegen Synagogentüren, wurden Autos beschädigt und jüdische Schulen bedroht. Lille, Straßburg, Paris, Mulhouse, Saint Denis - die Liste der Städte wächst, in denen Parolen wie "Tot den Juden" gerufen oder an die Mauern geschmiert wurden.

Am 29. Dezember fand ein jüdischer Metzger aus Bordeaux vor seinem Laden einen Boykottaufruf zum Kauf jüdischer Produkte - drei Tage später waren seine Fensterscheiben zerstört. Am Dienstag musste eine jüdische Schule in der Nähe von Saint Denis nach anonymen Bombendrohungen evakuiert werden.

Warum gerade in Frankreich so heftig?
Die Täter vermengen Politik und Religion, unterscheiden nicht zwischen dem Staat Israel und dem Judentum. Ihre Parolen haben nichts mit dem aktuellen politischen Geschehen zu tun. Sie sind antisemitisch. Mehr als 55 solcher Übergriffe zählt die jüdische Studenten-Organisation UEJF in Frankreich seit dem 27. Dezember. Zum Vergleich: Im Jahr 2007 waren es insgesamt 250. Doch warum sind gerade in Frankreich die Reaktionen auf die Kämpfe im Gazastreifen so heftig?

Der französische Politologe Jean-Yves Camus sieht die Demografie als einen Grund. Frankreich habe mit rund 600.000 Juden nicht nur die größte jüdische Gemeinschaft Europas, sondern sei mit vier bis fünf Millionen Muslimen auch so stark islamisch geprägt wie in Westeuropa nur noch Großbritannien. Da gebe es viele Reibungsflächen, meint der Experte vom Pariser ISIS-Institut für internationale strategische Beziehungen Frankreichs.

Nach Einschätzung von Camus sind rund 90 Prozent der Täter junge Muslime. Sie lebten oft in Vororten von Paris, Toulouse, Lille oder Lyon. Doch die antisemitischen Übergriffe seien nicht nur ein Problem der berüchtigten "Banlieus", die Lage sei komplexer, betont Camus. Seiner Einschätzung zufolge fallen die Reaktionen auch deshalb so heftig aus, weil Staatspräsident Nicolas Sarkozy sich im Nahostkonflikt zu profilieren versuche. Das habe zusätzlich Öl ins Feuer gegossen und die Reaktionen seien auch als Kritik an Sarkozy zu verstehen, der in den entsprechenden Milieus besonders unbeliebt sei.

Vertreter der Religionen mahnen
Auch bei bislang friedlichen Demonstrationen, wie es sie in anderen Ländern Europas gibt, macht Camus in Frankreich eine Verschärfung aus: Sie würden stärker antisemitisch. Dass Israel-Kritik in Antisemitismus überspringt, stellt auch die EU-Grundrechteagentur in Wien fest. Das sei eine immer wieder auftauchende Reaktion auf die Nahost-Krise, sagt deren Antisemitismus-Experte Andreas Accarado. Doch derart heftige und zahlreiche Übergriffe wie derzeit "geben Anlass zur Sorge".

In Frankreich mahnen Vertreter verschiedener Religionen nahezu unisono zu Mäßigung, warnen Imame, Rabbiner und Bischöfe eindringlich davor, den Gaza-Konflikt nach Frankreich zu "importieren". Der Nahostkonflikt sei politisch und kein Religionskrieg zwischen Juden und Muslimen, erklärte der Religionsrat der Muslime in Frankreich unter der Woche. Ebenso riefen die katholischen Bischöfe zu Frieden unter den Religionen auf. Sie verurteilten jede Form, den Konflikt durch Gewalt in Frankreich fortzuführen. Doch bislang blieben ihre Rufe ungehört.